Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der eiserne Wald

Der eiserne Wald

Titel: Der eiserne Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Howard
Vom Netzwerk:
hässlicher Schatten im strahlenden Mondlicht.
    »Weg von ihr«, sagte der Mann. Aber ich war wie erstarrt, als hätte ich mich in den Pflanzen verheddert. »Bewegung«, knurrte er, und diesmal hielt er mir eine Schrotflinte an den Kopf.
    Ich trat beiseite, ständig verfolgt vom Lauf der Waffe, der nur Zentimeter von meinem Gesicht entfernt schwebte. Als ich versuchte, etwas zu sagen, schnitt mir der Mann das Wort ab: »Halt’s Maul, Jungchen.«
    Langsam ließ er den Strahl seiner Taschenlampe über Hina wandern. Ihm stand der Mund offen, an dem Speichelfäden hingen, und seine Augen quollen aus den Höhlen. Er blinzelte und drückte die Taschenlampe gegen ihre Haut, als wollte er prüfen, ob sie auch wirklich real war. Dann glotzte er wieder mich an und rammte mir das Gewehr unters Kinn.
    Der Mann wandte sich ab und beschrieb mit der Taschenlampe eine Acht. Anschließend klopfte er vier Mal gegen eine Maisstaude.
    »Wie viele noch?«, fragte er.
    »Niemand«, behauptete ich. Meine Stimme zitterte genauso wie der Rest meines Körpers.
    »Im Wagen?« Er drückte die Waffe noch fester gegen meine Haut. »Wie viele sind im Wagen?«
    »Der ist leer«, versicherte ich ihm. »Kaputt.«
    »Du lügst.« Er grinste hämisch. »Aber das wird dir auch nicht helfen.«
    Wieder hörte ich Schritte zwischen den Pflanzen, woraufhin der Wilderer mir signalisierte, loszugehen. Ich schob Hina vor mir her, behielt die Hände auf ihren Schultern und versuchte, sie von dem Wilderer abzuschirmen, der die Flinte nun gegen meine Wirbelsäule presste und uns zum Wagen zurückscheuchte.
    *
    Als wir auf den Feldweg hinaustraten, folgten uns ungefähr zwanzig Wilderer. Sie schlüpften zwischen den Stauden hindurch und erschienen wie aus dem Nichts, als wären sie eben erst aus den Pflanzen hervorgesickert. Einige von ihnen hatten nicht einmal Schusswaffen, nur Messer oder einfache Sägen. Ihre Kleidung war aus Maishülsen angefertigt, und sie waren alle barfuß.
    Ich musterte die ausgemergelten Körper und Gesichter im Mondlicht. Tote Augen. Mehr Narben als Zähne im Gesicht.
    Der Wilderer hinter mir klopfte mit der Flinte gegen meinen Schädel und drückte mich gegen den Wagen, während er versuchte, ins Innere zu spähen. Dann schlug er mit dem Gewehrkolben auf das Dach.
    »Kommt raus«, brüllte er.
    Die restlichen Wilderer hatten inzwischen den Wagen umstellt, die Waffen im Anschlag. Wieder trommelte der Mann aufs Dach.
    »Wir tun euch nichts«, schrie er. »Wir wollen nur den Wagen und das, was drin ist. Also kommt raus. Sonst werden eure Freunde hier dafür leiden müssen.« Dabei starrte er Hina an, und ich spürte, wie sie neben mir zitterte.
    Der Kerl hämmerte so lange auf das Dach, bis sich die Heckklappe öffnete, als hätte das Getrommel sie gelöst. Sal streckte den Kopf raus, worauf der Wilderer mit einem Laut reagierte, der wohl ein Lachen darstellen sollte.
    »Scheiße«, fluchte er und zog Sal am Ohr aus dem Wagen. »Seht euch den Winzling an.«
    Dann passierte alles so schnell, dass es kaum zu verarbeiten war.
    Im Wagen wurde ein Schuss abgefeuert, die Kugel traf den missgestalteten Wilderer mitten ins Gesicht und schleuderte ihn fast zwei Meter weit zurück. Dann fielen die anderen Wilderer über uns her. Einige von ihnen hielten sich an Sal, aber die meisten umzingelten Hina und mich und trieben uns in die Maisstauden.
    Das reinste Chaos. Taumelnde Gestalten zwischen den Pflanzen, Schüsse, Schreie.
    Doch dann stand die Welt still. Der Mond verfinsterte sich.
    Und ein schreckliches Summen erfüllte die Luft.
    Noch nie hatte ich gesehen, wie so viele Menschen so schnell verschwanden. Die Wilderer verteilten sich und schienen sich in Luft aufzulösen, als hätten sie Löcher im Gefüge der Welt entdeckt, in denen sie sich verkrochen. Sie waren weg. Einfach so. Und Hina und ich waren zehn Meter von der Straße entfernt.
    Wild um mich schlagend pflügte ich durch die Pflanzen und zerrte Hina hinter mir her, während das Heulen der Heuschrecken immer lauter wurde, ein Laut der Verzweiflung, der in deinen Kopf eindringt und deine Gedanken lahmlegt.
    Ich stürmte weiter, verlor kurz das Gleichgewicht, schon lag ich im Dreck, und Hinas Hand löste sich aus meiner.
    Hastig rollte ich mich herum, und da sah ich sie.
    Ein letztes Mal.
    Sie war stehen geblieben. Stand einfach da und sah mich an, während sich die geifernde Wolke auf sie stürzte, summend, beißend, quälend langsam. Sie wurde von ihnen verschlungen. Ihr Kopf, ihr

Weitere Kostenlose Bücher