Der eiskalte Himmel - Roman
ausmalen kann. Ihr Dröhnen verschluckt jeden Laut, und für ein paar Augenblicke, während die CAIRD noch das voranlaufende Wellental durchschneidet, sind alle Geräusche des Meeres verschwunden.
Es bleibt keine Zeit, die Segel zu reffen. Nichts in den verbleibenden Sekunden ist wichtig, nur irgendwo Halt zu finden und sich dort festzuklammern. Crean wirft sich die Ruderleine um. Er zurrt sich an der Pinne fest. Der Mann am Mast sinkt auf die Abdeckung, Worsley ist es; er schlingt Arme und Beine um den Baum. Durch den Vordereinstieg stürzt Vincent nach unten, durch den hinteren Kopf voran ich, und mir folgt nur noch Shackleton.
»Drei Mann unten!«, schreit er, und ich sehe, seine Stirn blutet. Von Deck kommt keine Antwort. »Tom!«, brüllt Shackleton, »Tom! Wie viele?«
Und auch ich brülle: »Wo ist Bakewell?«, da fängt die CAIRD an zu hüpfen, sie hüpft wie ein Floh auf und ab. Shackleton und ich fallen übereinander. Steine fliegen durchs Boot, die Wasserfässer rollen über uns hinweg, und im Bug sehe ich Vincent sitzen und wie sein Kopf so lange von unten gegen eine Ruderbank schlägt, bis sie krachend entzweibricht. Im selben Moment ist das Rütteln vorüber, und das Boot hebt den Bug, so rasch, so leicht, so völlig lautlos steigt es immer weiter, als hätte es Flügel bekommen und segelte dem Wasser davon. Blitzartig wird mir klar, wo wir sind, auf dem Kamm der Woge nämlich, so dass die Abfahrt ins Tal unmittelbar bevorsteht.
Als sich der Bug senkt, kommt das Wasser herein. Im Nu ist das Boot vollständig geflutet. Die Wassermassen sind eisig und von solcher Gewalt, dass Vincent und mit ihm alles, was noch im Vorschiff verblieben war, in einem einzigen Schwall zum Heck gespült wird. Die CAIRD rauscht hinab. Das Wasser flutet zurück und sammelt sich im Bug. Shackleton, Vincent und ich verkeilen uns mittschiffs, wo jeder jeden festzuhalten versucht und wo wir nach Luft japsend gemeinsam auf den Aufprall warten.
Es dauert lang, so lange, dass ich es ein Dutzend Mal keuchen kann: »Bakewell! O Gott, Bakewell!«
Der Aufprall drückt das Boot ganz unter Wasser. Jedes Geräusch erstirbt, und die Farbe des Wassers, jetzt, da das Licht fehlt, wechselt, Drakes graues Meer wird glasgrün.
Mit einem Mal weià ich: Wir gehen unter.
»Wir sinken«, stöhnt Vincent in meinem Arm.
Aber Shackleton, mit seinem blutverschmierten Gesicht, weià es besser: »Es kann nicht sein«, keucht er, »und es darf nicht sein. Ich verbiete es.«
6
Der unsichtbare Vierte
Z u fünft schleppen wir anderthalb Tage später das halb zertrümmerte Boot so weit wir es schaffen einen kleinen Geröllstrand hinauf. Er liegt tief im Innern der König-Haakon-Bucht an der Südküste von Südgeorgien.
Seit Stunden hat keiner ein Wort gesagt, und selbst am Ziel der Reise bringen wir auÃer einem tiefen, hässlichen Stöhnen nichts heraus. 36 Stunden lang haben wir nichts getrunken, seit die Woge die beiden Proviantfässer zerschlug und Shackleton, Vincent und ich im Bauch der CAIRD mit ansehen mussten, wie sich unser Trinkwasser in das hereinbrechende Meer ergoss. Meine Zunge ist zum Knebel geschwollen. Ich habe gebellt, als die Klippen von Kap Demidov vor mir aus der Brandung ragten, ich habe vor Glück geheult wie der selige Shakespeare vor Hurleys Schlitten, und noch im Schutz des Strandes, das Sprudeln des Gletscherwassers im Ohr, kann ich nicht aufhören, an die Pein zu denken, von der Scott schrieb und die ich nun selber erlebt habe: die Todesangst, vor Durst zu ersticken.
Erst beim Anblick des Bächleins, das aus dem Eisüberhang auf den Felsboden plätschert, fallen wir uns stumm in die Arme. Das Wasser macht unser Ãberleben gewiss. Worsley und den vor Entkräftung taumelnden Vincent schickt Shackleton auf der Stelle zum Trinken. Crean, er und ich gehen zuvor zurück zum Boot, um Bakewell zu bergen und auch ihn zu dem Gletscherbächlein zu tragen.
Hinter einem zweimannhohen Eiszapfenvorhang einige Schritt über der Hochwasserlinie entdeckt Worsley eine Felsengrotte, die groà genug für drei Schlafsacklager, den verbliebenen funktionsfähigen Kocher und die Reste unseres Proviants ist. Dahinein ziehen wir uns zurück, nachdem wir die JAMES CAIRD vertäut und entladen haben. Ich bereite einen Eintopf aus Robbendörrfleisch zu, und mit dem frischen Wasser erhält jeder so viel
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