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Der eiskalte Himmel - Roman

Der eiskalte Himmel - Roman

Titel: Der eiskalte Himmel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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die Kommandos erteilt: »Jetzt den Fuß links, Tom, und Sie, Bakewell, ziehen die Beine ans Kinn. Festhalten!« Von oben meldet ein anderer heranrauschende Brecher und Sturzseen: »See trifft Boot backbord!« Und unten schmettert Worsley: »Mister Vincent bleibt liegen, Mister Blackboro daneben, Ernest, verflucht, halt dich fest, oder willst du …?« Etliche Male fliegt alles, was nicht verzurrt oder in Kisten und Fässern verstaut ist, durcheinander. Kocher, Navigationstafeln, Socken, Briefe, Kerzen, alles liegt irgendwann einmal in der Brühe zwischen den Steinen, wo längst nicht mehr nur Wasser schwappt. Milchpulver löst sich dort auf, Zwiebackbrei schwimmt da, und nicht immer gelingt es, den Inhalt von Mutter Greens blauer Emaillekasserolle, in die wir uns erleichtern, rechtzeitig durch den Einstieg nach draußen zu befördern. Der Gestank, den das Bilgewasser verbreitet, ist ein anderer als jener auf der Elefanten-Insel, es stinkt weniger nach Kot, sondern mehr nach Verwesung, und der Geruch lässt sich nicht vertreiben, auch dann nicht, als wir allen alten Schmutz aus dem Wasser geschöpft haben und peinlich darauf achten, dass jeder neue auf der Stelle entfernt wird. Es stinkt trotzdem, es stinkt von Tag zu Tag mehr.
    Seit dem siebenten Tag auf See entschuldigt sich Shackleton immer öfter dafür, dass seine Berechnung, Südgeorgien binnen einer Woche erreichen zu können, offensichtlich nicht stimmen kann. Die Drake-Passage bietet keinerlei Anhaltspunkt zur Positionspeilung. Es gibt kein Riff, kein Eiland, nicht den kleinsten aus dem Wasser ragenden Felsen. Doch auch nach acht Tagen sichten wir weder Tang noch Seevögel, nichts, das auf nahes, zwei oder drei Tage entferntes Land hinwiese. Die See ist grau, stürmisch und endlos, eine einzige auf und ab rollende Woge unter einem kalten verhangenen Himmel. Einmal, als wir mit Crean an Deck sitzen und über meinen Bruder reden, fragt mich Shackleton, ob ich mir vorstellen könne, dass irgendwann Flugzeuge derartige Distanzen überwinden. Ich habe lauter Haare im Mund, feine, nichtmenschliche Härchen, von denen es unter Deck wimmelt und deren Herkunft sich keiner erklären kann, und weil ich ganz damit beschäftigt bin, sie herauszubekommen und in den Handschuh zu spucken, sage ich, ohne über Shackletons Frage nachzudenken: »Ja.« Es ist nur eine plötzlich aufflammende Sehnsucht, weniger danach, fliegen zu können, als nach Dafydd, Regyn und meinen Eltern. Aber in diesem Moment ist das ein und dasselbe, und auch Shackleton, dem die Haare genauso zu schaffen machen, sagt gepresst, während in unserem Rücken Tom Crean sein ewig gleiches unverständliches Lied summt: »Ja. Es kann nicht anders sein.«
    Am neunten Tag nutzt Worsley ein Loch in der Wolkendecke, um die Sonne zu schießen. Wortlos zurück unter Deck, kriecht er mit dem durchweichten Navigationsbüchlein und der handtellergroß zusammengefalteten Seekarte Kopf voran so tief wie möglich in den Bug. Er ist der einzig halbwegs trockene Winkel an Bord, der einzige Ort, wo er ungestört rechnen kann. In den Schlafsäcken zu seinen Füßen liegen Vincent und ich so eng beieinander, dass wir uns trotz des schweren Seegangs atmen hören. Jeder ein Bein des Skippers gepackt, um ihm Halt zu geben, wenn sich der Bug der CAIRD hebt, dann auf dem Wellenkamm kippt und mit Getöse eintaucht in den Rücken der Woge, stecken wir die Köpfe zusammen und warten auf Worsleys Kommando, ihn aus der Nische zu ziehen. Wie wir alle trägt der Skipper eine wollene Strumpfhose, darüber Tuchhosen und darüber den Burberry-Overall. Jeder haben wir über zwei Paar Socken knöchelhohe Filzstiefel an und tragen zusätzlich Finneskoes, Stiefel mit hohem Schaft aus Rentierleder, die Fellseite außen. Worsleys Finnenschuhe, die dicht vor Vincent und mir hin und her schlagen und uns immer wieder ins Gesicht treffen, sind schlaff, vollgesogen mit Wasser und haben, wie die unseren auch, alles Fell längst eingebüßt. Zuvor hatten sie zwar diese feinen, silbernen Härchen. Doch die nun überall kleben, sind so viele, dass sie nicht allein von sechs Paar Finneskoes stammen können. Sie bilden eine Fellschicht innen an den Bootswänden, schimmern im Bilgewasser und schwimmen in der Milch.
    Kurz schwojt das Boot nur leicht über backbord, und mir fällt ein Spruch meines Vaters ein: Man muss die

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