Der eiskalte Himmel - Roman
segeln. Die Route, die ich nach Stromness einschlage, liegt nach der Kompassnadel östlich. Ich gehe davon aus, Ihnen binnen weniger Tage Hilfe zu bringen. Mit vorzüglicher Hochachtung Ernest Henry Shackleton.«
Noch einmal kriechen Bakewell und ich in unseren Schlafsack. Gegen zwei Uhr morgens weckt uns Crean. Während Worsley für alle den Rest Albatroseintopf aufwärmt, wechsle ich mit Bakie die Jacke. Er schlüpft in meinen Grego und tastet nach dem Fisch an seiner Brust, dann schlieÃt er mich, so gut es mit seiner Schiene geht, in die Arme.
»Eins, zwei, drei«, sagt er und versucht dabei, fröhlich auszusehen. »Drei Tage, und du hast es geschafft. Dann kommt ihr mit dem Schnellboot und holt uns. Bring mir ein Bier mit. Und jetzt verschwinde, damit ich endlich diesen Zettel lesen kann!«
Vincent hat seinen Spaà und haut mir eine Pranke auf den Rücken.
Die drei begleiten uns vors Boot. Dort bleiben sie stehen, Bakewell rechts, Vincent links und Worsley in der Mitte. Und so stehen sie da noch immer, als ich weit oben von einem Schneefeld hinabschaue durch die Morgendämmerung. Ich sehe das Meer und den Strand, und ich sehe das kleine gekippte Boot, Haus Peggotty in seinem Garten aus Steinen.
Shackletons Seekarte verzeichnet nur die Küstenlinie der Insel, und sogar sie ist an vielen Stellen unvollständig. Immer wieder wird sie unterbrochen vom Kartenblau des Südmeers. Im Innern ist diese sichelförmige Zeichnung von Südgeorgien so leer und so weià wie jenes Land in meinem alten Traum, und obwohl die Berge doch schon vom Meer aus weithin sichtbar waren, fehlen auf der Karte sogar sie. Niemand auÃer uns hat sie je zu besteigen gewagt. Keiner weiÃ, wie hoch sie sind, und sie haben keine Namen.
Mit dieser bestenfalls zur Unterstützung des Kompasses brauchbaren Karte in der Brusttasche stapft Shackleton voran über das rasch ansteigende Schneefeld. Es ist neblig und der Schnee ist locker, wir sinken ein bis zu den Knien. Um Stürze in versteckte Spalten abfangen zu können, seilen wir uns an. Shackleton läuft zehn Meter vor mir, zehn hinter mir ist Tom Crean. Wenn wir anhalten, um zu verschnaufen, sehe ich mich in seiner Schneebrille gespiegelt, meinen Bart, meine lange Mähne. Ich bin magerer, als es der spindeldürre Holie je war, dazu zerlumpt und vermummt.
Crean bemerkt, wie verdattert ich bin. »Was ist los, Merce? Schon Hunger?«
»Nix da!«, ruft Shackleton von oben. Er ist auÃer Atem, doch er hat das breiteste Lächeln aufgesetzt. Er ist in seinem Element, ganz Euphorie. »Erst geht es hinauf, Gentlemen!«
»Sir, mit Verlaub, ich hatte gar nicht die Absicht â¦!«, rufe ich.
Und Crean ruft: »Wir haben bloà die Aussicht bewundert«, was bei dem Nebel nur ein Scherz sein kann. Allerdings wäre es der erste Scherz von Tom Crean seit Montevideo. Schon sagt er ernst: »Jetzt sind wir fertig damit.«
Das Seil strafft sich. Es geht weiter. Von hinten höre ich dieselbe Melodie wie auf der Scholle, wie in den Booten und wie auf der CAIRD . Crean summt wieder.
Noch ein weiteres Mal wird diese erste, von mir gar nicht gewollte Rast verschoben. Denn vom Kamm des Schneehangs aus erblicken wir, im sich langsam lichtenden Nebel gut zu erkennen, nur wenig links von unserem östlichen Marschkurs einen groÃen, völlig weiÃen, folglich zugefrorenen Talsee. Shackleton erklärt ihn auf der Stelle zum Glücksfall, verheiÃt der See doch die Möglichkeit zu einer ebenen Route entlang an seinem Ostufer.
Mühelos geht es eine gute Stunde lang auf der anderen Seite des Kammes wieder hinab. Dann tauchen die ersten Risse in dem verharschten Schneefeld auf. Zunächst sind sie schmal und nicht sonderlich tief. Doch bald folgen immer breitere, deren Grund nicht mehr zu erkennen ist und die nichts anderes als Spalten sein können. Sie lassen nur einen Schluss zu, nämlich dass wir dabei sind, nicht einen von Schnee und Eis bedeckten Bergrücken, sondern einen Gletscher hinunterzusteigen. Crean und Shackleton sehen es wie ich, der ich zwar noch nie auf einem Gletscher gestanden, dafür aber von hunderten Gletschern gelesen habe und daher weiÃ: Ein Gletscher ist ein Strom aus Eis und strömt ins Meer, er flieÃt zumindest auf einer Insel niemals in einen See. Was da so einladend weià und eben zu unseren FüÃen liegt, kann, mit Verlaub, kein See sein.
Crean hört auf
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