Der eiskalte Himmel - Roman
Gelegenheit beim Schopfe packen, ehe sie kahlköpfig ist. In die plötzliche Stille hinein sage ich laut, was ich beim Anblick von Worsleys Schuhen denke, ich frage Vincent, der vor sich hin stiert, um mich nicht ansehen zu müssen, ob er Robinson Crusoe gelesen habe.
»Ja«, sagt er. »Als Junge.« Er sieht mich an. »Da bist du platt.«
Damit könnte er Recht haben. »Beeindruckend«, hätte Cook gesagt.
Die nächste Welle rollt heran, bricht sich am Bug und reiÃt ihn in die Höhe. Wir packen wieder zu.
»Gleich!«, brüllt Worsley. »Lieber Gott in der Höhe, was für eine â¦Â«
»Ich muss dran denken«, sage ich zu Vincent, »dass, als sein Schiff untergeht, Robinson nichts von seinen Kameraden retten kann als drei Hüte, eine Mütze und zwei Schuhe ⦠zwei, die nicht zusammengehören. Macht sechs Sachen von sechs Männern.«
»So viele, wie wir sind«, sagt Vincent. Es klingt ungläubig und abwehrend, aber keine Verächtlichkeit liegt darin.
»Genau.«
Der Skipper zappelt.
»Zieht mich raus«, ruft Worsley, »das hält ja kein Mensch aus!«
Wir ziehen. Ãber Worsleys Beine hinweg sagt Vincent: »Und jetzt mal, was ich denke: Die Schuhe sind es nicht allein. Es ist vor allem das verdammte Rentierfell dieser dreimal verdammten Skandinavier.«
»Ein unvorstellbarer Lärm herrscht da drin«, keucht Worsley, indem er sich zwischen uns aufsetzt. »Es dröhnt von allen Seiten wie Gongschläge. Mann, mir saust der Schädel! Aber ich habe sie, ich hab die Zahlen! Und wisst ihr was â¦Â«
»Einen Moment, bitte, Sir!«, sage ich verwirrt. »Vincent war gerade ⦠er hat etwas entdeckt.«
Worsley ist nicht einmal beleidigt, so perplex ist er.
»Der Gestank, Frank, Sir«, sagt Vincent schnell, und sein riesiges Gesicht läuft rot an, »er kommt von deinen Schuhen, von dem Rentierfell, und das ist doch auch in den Schlafsäcken!«
Um ganz sicherzugehen, hat Worsley seine Berechnung zweimal wiederholt, während Vincent und ich ihn festhielten und Frieden miteinander schlossen. Noch Stunden nachdem wir aus dem Bug gekrabbelt sind, ist der Skipper auf dem Ohr, das er sich nicht hat zuhalten können, taub, doch auch ohne zu verstehen, was wir sagen, merkt man ihm die Verblüffung darüber an, dass Vincent und ich plötzlich miteinander reden.
Vincents Verdacht bestätigt sich, als er und ich einen der drei Matratzenschlafsäcke untersuchen: AuÃen ist er fast trocken und unbeschädigt. Aber innen hat sich das Fellfutter vollständig aufgelöst, und das zurückgebliebene nackte, zu Brei verfaulte Leder ist es, was süÃ-säuerlich derart nach verdorbenem Fleisch stinkt. Es ist nicht einfach, Crean und Bakewell, die so fest schlafen wie die Steine, auf denen sie liegen, von der Notwendigkeit zu überzeugen, ihnen die weiche Matte wegzunehmen. Nachdem alle Worte nicht fruchten, genügen schlieÃlich ein Blick in den Sack und leichtes Wedeln. Vincent und ich werfen die Schlafsäcke über Bord, und ein paar Stunden später ist der Gestank fast völlig verschwunden.
Worsleys Berechnung ergibt, dass wir nach zehn Tagen Fahrt rund 1250 Seekilometer hinter uns gebracht haben. Und, was noch wichtiger ist, sie ergibt, dass wir bis auf eine Abweichung von 25 Seekilometern in nordöstlicher Richtung genau auf Kurs Südgeorgien fahren. Bleibt uns der Westwind erhalten, kann er die CAIRD binnen 48 Stunden zu ihrem Ziel tragen, vorausgesetzt, wir verfehlen die Insel nicht; denn segeln wir an der Nordspitze vorbei, am Willis-Eiland, am Bird-Eiland und an allen winzigen Felsen, über die sich Südgeorgien ins Meer verliert, dann gibt es keine Umkehrmöglichkeit für unsere Nussschale, dann findet sie sich auf einer See wieder, die landlos dahinwogt bis nach Australien. Worsley, dem Neuseeländer, soll es recht sein. Shackleton und Crean aber kommen überein, dieses Risiko von vornherein auszuschlieÃen. Der Plan, die Insel nordwärts zu umsegeln und das Boot aus eigener Kraft in die Stromness-Bucht zu manövrieren, um Leith Harbour oder Kapitän Sørlles Walfangstation anzulaufen, wird fallen gelassen. Das neue Ziel ist die Südküste Südgeorgiens, die breit genug ist, um sie auch dann nicht zu verfehlen, wenn die Kursabweichung die Sichtgrenze überschreitet. Viele windgeschützte Buchten
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