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Der eiskalte Himmel - Roman

Der eiskalte Himmel - Roman

Titel: Der eiskalte Himmel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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erklären musste, haben wir wohl oder übel einzusehen, dass wir auch die offene See aus eigener Kraft nicht werden erreichen können. Wir sitzen fest im Mahlstrom Weddells, der sich im Uhrzeigersinn nach Norden dreht und, wie Kapitän Jacobsen es vorhergesagt hat, alles, auch uns, mit sich fortreißt, weg von der Vahselbucht und weg von der Route zum Pol.
    Â»Wir sitzen fest wie eine Mandel in der Schokolade«, sagt Orde-Lees beim Abendbrot. Und obwohl niemandem nach Lachen zumute ist, honoriert der Sir diesen Aufmunterungsversuch, indem er Tante Thomas fragt, ob er bereit sei, künftig statt der Motorschlittenüberwachung die Proviantmeisterei zu übernehmen.
    Â»Danke, Sir, große Ehre, Sir, danke, danke«, lautet die Antwort. Und da gibt es doch noch Gelächter.
    Da die ENDURANCE aufgehört hat, Schiff zu sein, und weil uns jetzt Herbst und Winter bevorstehen, acht Monate in Kälte und Dunkel, wird die Bordroutine formell außer Kraft gesetzt. Wir verwandeln uns von einem nautischen Gefährt in eine treibende Küstenstation, die südlichste auf der Welt. Nicht nur Orde-Lees, alle erhalten wir neue Aufgaben. In alphabetischer Reihenfolge gehen wir auf Nachtwache, zwölf Stunden, in denen man für die Sicherheit des Schiffes, das Heizen der Öfen und die meteorologischen Aufzeichnungen verantwortlich ist. Die undankbare erste Wache fällt Bakewell zu. Ihm gilt das Mitgefühl aller, als sie in ihre Kojen kriechen und sich einmummeln, während er in den Nachtwind an Deck steigt. Mit ihm tauschen möchte niemand, nur ich werde es müssen. Schon morgen nämlich ist das zweite B an der Reihe. Oh, hieße ich Zackboro.
    Im Licht der letzten kleinen Lampe, die im Ritz brennt, sieht es so aus, als wäre er eingeschlafen. Die Ellbogen liegen angewinkelt auf der Seekarte, die er auf dem Tisch ausgerollt hat, und in die Armbeugen hat er den Kopf gebettet. Die glänzende Haut auf seinem kahlen Hinterkopf spiegelt lustig den Lichtschein. Ich frage mich, ob ich ihn wecken und, mit allem nötigen Respekt, zu Bett schicken soll.
    Aber Frank Wild schläft nicht. Seine Augen stehen weit offen und ruhen auf der Karte, rot unterlaufene, hundemüde Augen, wie wir sie nach der Schinderei im Eis alle haben. Ab und zu beknabbert er einen Hautfetzen an der Unterlippe, und als ich um den Tisch herumgehe und ganz in sein Gesichtsfeld trete, hebt er kurz den Blick und lässt die Brauen in die Stirn zucken.
    Â»Ah, du bist’s, Merce. Schläfst du gar nicht?«
    Â»Nein, Sir. Ich dachte, ich schaue mal nach Bakewell und leiste ihm etwas Gesellschaft. Ich wollte ihm einen Tee holen. Für Sie auch einen?«
    Er hört mir nicht zu. Er ist mit den Gedanken woanders, in einem Raum in seiner Vorstellung, mit den Koordinaten der Seekarte, die vor ihm liegt, und in einer Zeit in der Zukunft, die von der Dauer der Polarnacht bestimmt wird. Fast unmerklich schüttelt Frank Wild den Kopf, und ich bin mir sicher, dass dieses kleine stumme Nein nicht nur der Wohltat eines heißen Schluckes gilt, die er sich zumindest in Gegenwart eines anderen verbietet. Nein, nein, die Lage, in die sie uns gebracht haben, ist Wild so unbegreiflich und so unerträglich wie Shackleton.
    Allen voran hat er den ganzen Monat lang versucht, das Schiff freizubekommen. Wenn der Rest seines Trupps schon längst um den Ofen hockte und sich die steifen Finger rieb, war Wild mit dem nächsten, dem übernächsten immer noch draußen auf den Packeishügeln vor dem Bug und schaufelte den Schnee weg, um die Platte der gefrorenen Dünung freizulegen. Und war er nach zehn Stunden Schippens zu kraftlos, das Eis in der Rinne aufzuhacken oder doch mürbe zu pickeln, so stapfte er wenigstens zum Schiff zurück und holte für einen, dessen Axt im Eisbrei verschwunden war, eine neue, damit der an seiner Stelle weitermachen konnte.
    Â»Weiter, weiter, Männer, weiter!«
    Die Temperatur sank Mitte Februar auf minus 15 Grad. Und obwohl eine offene Rinne schneller wieder zufror, als es möglich war, die ENDURANCE durch sie hindurchzupressen, gab Wild die Hoffnung nicht auf: Nach seiner Ansicht konnte das Tempo der Eisdrift dazu führen, dass sich ein Spalt von einer zur anderen Minute zu einem ausreichend breiten Kanal weitete. Vorausgesetzt, wir schafften einen Spalt.
    Â»Wir brauchen einen Spalt!«, brüllte er deshalb jeden Tag bestimmt 100-mal. »Passt auf, dass der

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