Der eiskalte Himmel - Roman
sich träge in einem Eisbrei, durch den das farblos-trübe Wasser kaum noch hindurchschwappen kann. Uns bleibt nichts zu tun, als mit anzusehen, wie das Meer allmählich gefriert und unser Schiff einschlieÃt.
Welche Vorwürfe sich Shackleton macht, die eine Küste, an der wir hätten landen können, ausgelassen zu haben, merke ich an der Erregung, in die ihn am 24. Januar um Mitternacht Greenstreets Meldung versetzt, es tue sich rund 50 Meter vor dem Bug ein Riss im Eis auf. Wir setzen alle Segel. Die Maschinen werden hochgefahren. Drei Stunden lang stehen wir an Deck und schreien uns warm, schreien uns dem Anblick der kaum 40 Kilometer entfernten Küste der Vahselbucht entgegen.
Zwei Stunden Fahrt durch offenes Gewässer, und wir hätten unser Ziel erreicht. Aber wir kommen dem Durchlass keine Planke breit näher. Und schlieÃlich friert er vor unseren Augen wieder zu.
Dritter Teil
DIE GEFRORENEN BÃCHER
»Wir brauchen einen Spalt!«
Ein Fahrrad, ein Klavier und ein Ballon
Das Gewicht des Lebens spüren
Die antarktische Uhr
Maschinistenwache â Feindschaften
Das zitternde Wrack
Ein Berg aus Habseligkeiten
Die brennende Puppe
28 Fische für das Lager der Geduld
WeiÃer Fleck im Schnee
1
»Wir brauchen einen Spalt!«
S eine hellblauen Augen, die ein wenig eng beieinander stehen, haben den Glanz zweier frischer Münzen. Fast könnte man meinen, er habe soeben geweint, so funkeln sie manchmal. Während so mancher Unterhaltung mit Frank Wild habe ich bemerkt, wie er plötzlich Vertrauen zu mir fasst, so froh ist er, wenn er unter vier Augen freundschaftlich mit jemandem umgehen kann. Seine Rolle als Shackletons Sprachrohr lässt uns alle, auch ihn selbst, viel zu oft vergessen, dass er eigentlich ein heiterer und verbindlicher Mann ist. Vielleicht wirkt Wild deshalb meistens ziemlich unglücklich, wenn er zur versammelten Crew spricht. Viel lieber würde er ein paar schnelle, witzige Kommandos schmettern und den Rest einem jeden mit einem Blick sagen.
Warum ist es weder mit den Hunden noch mit den Motorschlitten möglich, über das Packeis bis zur Vahselbucht vorzudringen?
Die Frage lässt sich allein mit Blicken nicht beantworten. Frank Wild ist dabei, die Beschaffenheit der Eisfläche zwischen uns und dem Festland zu schildern, ihre unter dem Schnee versteckten tödlichen Gefahren, als ein einzelner heftiger Stoà das seit vier Wochen eingeschlossene Schiff erschüttert.
Auf den dumpfen Knall folgt ein furchtbares Kreischen, dann ein zweites, noch schrilleres.
Mein erster Gedanke ist, dass ein Schiff die ENDURANCE unter Beschuss nimmt, ein deutscher Panzerkreuzer, dessen dreimal so groÃer Stahlrumpf sich krachend und kreischend durchs Eis fräst, um uns zu rammen.
»Alle Mann raus!«, brüllen Shackleton, Greenstreet und Vincent. Das Mittagessen ist zu Ende, die Robbenroulade mit Kartoffeln wird niemand mehr essen, wir schmeiÃen das Besteck von uns und stürmen an Deck.
Der Anblick, der sich uns dort bietet, ist ein völlig anderer als erwartet und lässt mich wie alle diejenigen, die keine Ahnung haben, in wilden Jubel ausbrechen. Unmittelbar vorm Bug der ENDURANCE ist die Scholle entzweigebrochen. Eine Rinne hat sich gebildet, und nur 250 Meter trennen das Schiff von einem freien See im Eis, auf dem wir weg kämen, südwärts.
Niemand braucht uns zu sagen, was zu tun ist. Mit Spaten, Pickeln und Sägen bewaffnet springen wir über Bord. Ich dresche auf das weiÃe Feld ein, bis die langsam von den Zehen und Fingern aufwärts kriechende Taubheit die Hüften und Schultern erreicht. Japsend falle ich in den Schnee, und langsam dämmert mir, warum die Eisheiligen so ruhig geblieben sind.
Aus den Augenwinkeln kann ich es sehen. Kaum flieÃt das Wasser, wird es schon träge, wird zu Brei und erstarrt. Ja wirklich, es sieht aus, als würde es krepieren. Wasser, das verendet. Sinnlos, die Rinne offen halten zu wollen. Die Kälte ist schneller.
Und dabei hat noch nicht einmal der Herbst begonnen.
Bist ein wichtiger Tag, du 25. Februar 1915, denke ich da liegend, im Schnee vor dem ganz und gar mit Raureif überzogenen Schiff. Heute ist nicht nur das Wasser, heute ist die ganze Expedition gestorben. Kannst dir was drauf einbilden.
Eine Woche nachdem der Sir die driftende Eisfläche zwischen uns und der langsam zurückbleibenden Küste für unpassierbar
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