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Der eiskalte Himmel - Roman

Der eiskalte Himmel - Roman

Titel: Der eiskalte Himmel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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Motorschlitten, den, gezeichnet von George Marston, ich in Shackletons Buch gesehen habe. Seit dessen NIMROD -Expedition steckte das Gefährt vier Jahre lang im Ross-Schelfeis. Und es steckt dort noch immer. Da ihm Shackletons Angelegenheiten gleichgültig waren, ließ Kapitän Scott den Schlitten wieder eingraben.
    Bei Motorschlitten hört für unseren neuen Proviantmeister Orde-Lees der Spaß auf, und so beeilt er sich zu erzählen, dass in seinen Augen kein anderer als Scott die absurdesten Dinge in die Antarktis mitgebracht und hier zurückgelassen habe. Abgesehen von ihm selbst natürlich! Er grinst. Zwischen uns steht das Fahrrad, das er soeben von Bord geschoben hat. Im hellen Eislicht sehe ich, dass es schwarzen Lack nur noch als Tüpfel aufweist. Eine tiefbraune Rostkruste überzieht den ersten antarktischen Drahtesel.
    Â»In der Ross-Hütte zum Beispiel steht ein Klavier«, sagt er und überprüft die Speichen, von denen trotz monatelanger Lagerung des Rads im Ankergatt keine gebrochen scheint. »Auf dem aber hat nie jemand gespielt, denn weder Scott noch ein anderer von seinen Männern konnte Klavier spielen.« Tante Thomas legt den langen Kopf schief und bleckt die Zähne. »Warum also hat er es mitgenommen?«
    Ich habe keine Ahnung. Vielleicht, um Klavier spielen zu lernen.
    Â»Halt mal den Lenker.« Er bückt sich und sucht nach dem Ventil.
    Â»Sind, glaube ich, Vollgummireifen«, sage ich nach unten.
    Â»Hm.« Er richtet sich wieder auf. »Stimmt.« Er ist so groß und fast so massig wie Crean, und doch macht er auf mich den Eindruck, als würde er den eigenen Muskeln und Knochen nicht trauen. Als stünde er auf Stelzen im eigenen Körper. Umständlich steigt er auf. Jeder andere von seinen Ausmaßen würde einsehen, dass dieses Fahrrad zu alt und zu klein für ihn ist, dass es erstens riskant und zweitens lächerlich wäre, nur eine Spritztour über die Hafenmauer damit zu unternehmen. Nicht so Thomas Orde-Lees. Dass kein anderer auf die Idee käme, mit diesem Wackelding aufs Eis hinauszuradeln, macht für ihn erst den Reiz der Sache aus.
    Â»Alles klar. Kannst loslassen.« Er zieht die Schneebrille über die Augen. »Mal sehen, was die Totschläger so treiben.«
    Damit steigt er auf die Pedale. Das Hinterrad dreht durch, er tritt noch fester, und ab fährt er. Mit dem Burberry-Anzug, dem Stiefelwerk und der Schneebrille sieht er aus wie ein Flugzeugmechaniker, der über ein verschneites Landefeld flitzt. Zwei, die ihm auf dem Pylonenweg entgegengestapft kommen, treten applaudierend beiseite, als er vorbeischlittert.
    Mich ruft mein Herr und Meister, weshalb ich zurück aufs Vorderdeck gehe, wo Green dabei ist, die in weiße Streifen zerschnetzelte letzte Robbe der mageren Ausbeute vom Vortag in die Kühlkiste zu schütten.
    Â»Mehr Eis«, sagt er bloß, was heißt, dass ich einen weiteren Block für die Fleischkühlung schneiden gehen soll. Bei minus 20 Grad scheint Greens Mundwerk einzufrieren. Sein Kinn ist weiß wie Robbenfleisch, und er redet, als käme er gerade vom Zahnarzt. Also wieder runter, aufs Eis, mal gucken, ob er noch fährt.
    Wir treiben. Aber dass ich auf einer kaum zwei Meter dicken Schicht aus Schnee und Eis stehe, die auf dem Südpolarmeer dahinschwimmt, merke ich genausowenig, wie dass sich der Erdball dreht und durchs All rast. Es scheint alles stillzustehen. Nur wenn ein Eisberg nicht einmal mehr die verbliebenen vier Stunden Tageslicht braucht, um an unserem Schiff vorüberzuziehen, wird man von einer Angst, die anwächst wie der sich nähernde Berg, sanft daran erinnert, dass alles in dieser weißen Weite in Bewegung ist. Ende Februar, als wir frisch eingeschlossen waren, hatte sich das Packeis kaum merklich parallel zur Küste in westlicher Richtung geschoben. Anfang März drehte es nach Westnordwest und gewann an Tempo. Worsley und Hudson nahmen eine Lotung vor. Sie ergab, dass der Meeresgrund von knapp 250 Meter schnell auf über 1000 Meter Tiefe fiel. Damit konnten wir sicher sein, dass uns die Eisdrift in ihrem Hauptstrom entlang der antarktischen Halbinsel nach Norden mit sich reißt und dass sich Eisbarriere und Vahselbucht nunmehr in unserem Rücken befinden. Der Tag von Orde-Lees’ Fahrradpatrouille übers Eis ist der 6. April, der 72. Tag, seit wir eingeschlossen sind, und die beiden Männer, die ihm

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