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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Angst hatten, wenn jemand zu lange hinter ihnen ging, Horoskop-Shows von den lokalen Radiosendern in die überregionalen wanderten und die Dinge Umwege nahmen, um zu erscheinen, Zeit Zeit Zeit, das Schwungrad drehte sich immer schneller, Kohl wurde abgewählt, die Arbeitslosenrate stieg, ich wurde arbeitslos, Vater zuckte die Achseln, Oda, erfolgreich in einer New Yorker Bank tätig, sandte ein Fax voll mildem Spott, Kopfschütteln und guten Wünschen. An den Börsen brach das Fieber aus, es hieß, ein Kalb namens Neuer Markt sei geboren, und sein Fell besitze einen goldenen Schimmer
    – Oktobermond: In den Bars mit den hungrigen Augen und höflichen Gesten beobachtete ich Frauen mit blut- oder tollkirschenrotgeschminkten Lippen, aufreizend gelackten Fingernägeln, die sie wie Waffen um Billardqueues schlossen, ehe sie zustießen, beobachtete, wie ihre Pupillen beim Stoß zupackten, wie sie das Haar herausfordernd zurückwarfen, wenn das Klacken der Kugeln verebbte, Leopardinnen, die sich im Rauschgold des Schummerlichts bewegten, blinkenden Schmuck und High Heels trugen und unter kreisenden Ventilatorenschatten ihre Jagd begannen. Ich besuchte Kneipen, hungerte im Lärm nach Gesprächen, Kontakten, schließlich, als das Resignieren schon zu den Abenden gehörte, nach einem bloßen Blicktausch, Zeichen möglicher, wenn auch wortloser und kaum verbindlicher Verständigung, saß auf abgeschabten Barhockern, drehte mein Weinglas, bis ein Lichtnetz darin spielte, saß neben melancholisch blickenden Gestalten, die Sehnsucht hatten wie ich. Erinnerung, wenn ich nicht einschlafen konnte, kamen Rauch und das Gewirr der Stimmen über den Tischen zurück, Kerzenflackern, Frauen, bereit zu bitten, die Kühle in den Augen zu löschen,schaumig schwellendes Bierblond, die ausdruckslosen Augen der Barkeeper, ich ging und suchte, suchte nach Dingen, die ich in Träumen nicht fand und nicht in der seltsamen Zeit, die angebrochen war. Abends glitt der Oktobermond auf wie eine Blechchrysantheme, Wind pfiff über leere Plätze, trug den Geruch des Herbsts mit sich, den Azetylengeruch der Baustellen, Abgase, Dunst der Bier- und Frittenbuden, den fettigen, gepreßten Geruch von Kreuzberger Straßen, Parfumglocken der Glitzermeilen, Laternen taumelten über Kreuzungen, Wind trieb mürbes Laub und Papierfetzen vor sich her, in den Mitternachtsvorstellungen der Kinos kuschelten sich Pärchen aneinander, küßten sich hemmungslos, ich schloß die Augen und wartete, bis es vorbei war, oder stand auf und ging. In den Theatern und Opern waren nun auch moderne Stücke gut besucht, in den Pausen flanierten die Besucher, ließen Blicke über Lüster und Lünetten schweifen, die Einsamen verbargen ihre Traurigkeit, indem sie sich verbargen, Sekt tranken, aus den Fenstern schauten, ich stand in irgendeiner Ecke und blickte zu den elegant gekleideten Frauen, die am Arm ihrer Begleiter mit erfüllten Gesichtern auf und ab gingen, tauchte in den Laserrauch der Dancefloors, wo hämmernder Lärm Stromstöße durch entseelt tanzende Körper zucken ließ, von denen jeder sein eigenes Universum war, betäubt und dunkel. Hier, an diesen Orten, begriff ich, daß die Menschen nichts anderes wollten, als in Ruhe gelassen zu werden und sich zu amüsieren, sie wollten Spaß haben und alles vergessen, was das Leben schwermachte. Die Zeit des Mohns war angebrochen und seiner Gaben, nach denen die Menschen bereitwillig griffen. Eine davon war eine besondere Form des Schlafs, bei der das Vergessen und die Träume nicht aus Verlangsamung und Stille kamen, sondern aus Beschleunigung und unablässiger Bewegung: Trance
    – Oktobermond; nachts lag ich lange wach, heimgesucht von Erinnerungen, Dinge setzten Masken auf, Schritte hallten über die kahlen Plätze, Straßenbahnen fuhren fröstelnd und allein, trugen ihr Licht und in sich gekehrte Reisende mit sich, in den verschlossenen Wohnungen schliefen die Menschen nah beieinander. Schritte unter den Fenstern, Klirren von Glas, das jemand in den Container wirft, Vogelzüge am tintigen Himmel, manchmal noch ein Anrufer in den glimmenden Telefonzellen, mit gesenktem Kopf auf Antwort wartend, gedankenverloren die Asche von der Zigarette stippend; manchmal das stilettspitze Stakkato einer Alarmanlage, und der Besitzer des Autos kommt nach langer Zeit aus dem Haus, mit zerzaustem Haar, festverzurrtem Mantel und Schuhen mit schleifenden Schnürsenkeln, Wind, der einen rostigen Karabiner gegen eine Wäschestange schlug, kling,

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