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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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sind sehr schön ... Jeanne öffnete den Mund, prustete los, die blaue Haarsträhne rutschte nach hinten. Die wievielte bin ich, der du das sagst? Ihre Augen blitzten, vor Lachen bekam sie rote Flecken im Gesicht. Ich drehte mich um und lief zur Tür
    – sie paßte mich am folgenden Nachmittag auf dem Schulweg ab. Sei nicht böse, ich hab das nicht so gemeint. Es ist nur, sie sah beiseite, brach ab. Wie alt bist du eigentlich? Jeanne war ernst, ihre Augen wichen meinen Blicken aus. Sie trug das Haar offen. – Bald achtzehn, log ich. Ich mußte mich schon rasieren und war für mein Alter ziemlich groß. Wir gingeneine Weile nebeneinander, ich spürte, daß sie nichts Rechtes mit mir anzufangen wußte. Ich habe so etwas noch nie gesagt. Jeanne nickte und senkte den Kopf. Tut mir leid, wirklich. Hast du ein wenig Zeit? Eiscremebuden am Strand, weiß-blau gestreifte Markisen, Jungen, die in Eimern Tintenfische und Kraken trugen, unstetes Licht. Das Meer war mit hellgrünen, träge wechselnden Strömungen durchwoben. – Hast du Geschwister? – Zwei Schwestern, die jüngere ist in Mailand. – Ist dein Vater nicht bei einer Bank? – Ja. Dort trägt er auch Ihre Hemden. – Credit Lyonnais? – Ich glaube, in Frankreich sind alle dort. Das hatte Vater einmal zu Oda gesagt, die nach der Schule ins Bankfach wollte. Jeannes Blick schweifte ab, sie starrte ins Leere. Hast du eine Freundin? – Ihre Hemden tragen sich sehr gut. Sie lächelte. Danke. Und danke auch dafür, was du gestern zu mir gesagt hast. Was macht deine Verletzung, bist du zum Arzt gegangen? – Bagatelle, nicht der Rede wert. – Sag das nicht. Dort ist die Lunge. Jeanne war nah, streckte die Hand nach der Stelle der Verletzung aus. Ich schluckte und machte eine Bewegung zu ihr hin. Sie zuckte zurück, schüttelte den Kopf, sah aufs Meer. Ich schloß die Augen, um ihr Haar nicht zu sehen
    – ich hatte allein sein wollen, deshalb hatte ich Antoine nichts erzählt. Über der Bucht stand der fast volle Mond. Ich lag hinter dem Badehäuschen, hatte die Finger in den noch warmen Sand gesteckt, lauschte den Stimmen Jeannes und Vaters. – Ich habe mich mit deinem Sohn getroffen. Ich glaube, er ist in mich verliebt. – Ahnt er etwas? – Nein, ich glaube nicht. Mein Gott, Stefan, er ist noch so jung ... – Komm her, du Prachtweib. Sie sprach den Namen Stéphane aus, Vaters Stimme war ganz anders als sonst, auch Jeanne schien sich verändert zu haben. Ich hörte Keuchen, hastig geflüsterte Worte, Reißen von Stoff, sie lachte, sagte etwas zu Vater, Worte wieangezündeter Samt. Ich legte die Stirn in den Sand, erschöpft, als ob mir ein Loch in den Magen gerissen worden wäre, ein Körper krachte gegen die Wand, ich hob den Kopf, sah im Astloch eine helle Hand, Finger, die sich anzuklammern versuchten und, ins Leere greifend, sich schlossen, sah für eine Sekunde Jeannes Ring mit dem Herz. Mir wurde schlecht. Ich brauchte meine ganze Kraft, um die Düne hinaufzukriechen, als alles vorbei war, die Stimmen drinnen wieder zu einem Flüstern gedämpft waren, um den Drehkolk, der an meinen Eingeweiden riß, bis zur anderen Seite hinzuhalten. Ja, Oda, du dachtest, ich sei wahnsinnig geworden und wolle das Haus anzünden, als ich am nächsten Tag die Anzüge und Hemden verbrannte, die Jeanne für mich genäht hatte. Fruchtfliegen, die in einem kurzen Aufflittern starben, als ich dich anbrüllte und die Einmachgläser zerschlug, plötzlich hatte ich keine Kraft mehr, meine Hände bluteten, Mutter fuhr mich ins Krankenhaus, ich sagte kein Wort auf ihre unablässigen Vorhaltungen und Fragen, in meiner Hand preßte ich die Schnipsel von Jeannes Zettel
    – haben Sie geklingelt, schön, hat’s endlich geklappt mit dem Stuhlgang, zur Seite drehen, bitte
    – Kräfte spannten sich, Muskeln hatten jahrelang für etwas trainiert, das jetzt begann, das Fernsehen, die überall wie Knospen aufbrechenden Reklamen sagten, was es war, die Stadt glich einem riesigen Diskus, dessen Schwungmasse von bisher verborgenen, nun erwachten Energien angewälzt wurde; Sex wurde Leistungssport, der Schlaf danach riß den Körper bis an die Wurzel seiner Unruhe ab und baute ihn stückweise wieder auf für einen Tag erneuerter Jugend. Die Drehscheibe beschleunigte allmählich, aber unaufhaltsam, immer mehr wurde heraufgequirlt und geriet in ein Schlaglicht, sank nach kurzem Aufflackern zurück ins Dunkel. Zeit, in der dieMenschen auf ihre Träume in der Silvesternacht zu achten begannen und

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