Der Eisvogel - Roman
kling, kling, in den Betonwüsteneien Marzahns, etagenweise synchrones Fernsehgeflimmer, Betrunkene auf den Straßen, Oktobermond
N un lassen sie mich doch endlich einmal aufstehen, vielleicht habe ich es Jost zu verdanken, der den Spätdienstdrachen besänftigt hat mit dem Charme unverheirateter, vielversprechender Jungdoktoren, auf den Krankenschwestern, habe ich beobachtet, immer wieder fliegen
– was sie von dem Kerl wohl halten mögen, die Schwestern, jetzt zieht er sogar eine Packung Gauloises hervor, reißt ein Streichholz an, beobachtet, wie die Flamme von der Zigarettenspitze angesogen wird und sie entzündet
– nein: Ich wollte es nicht. Aber es gibt die Zeit und das, was die Erinnerungen davon übriglassen. Dorothea sagte: Aber mußt du dich denn so benehmen. Ich weiß schon, du willst sagen, du benimmst dich ja gar nicht – sie hatte das Wort sobetont, daß ich mich nicht aufregen würde, ich spürte das durchaus –; aber, ich meine, muß es denn so hart sein. Mußt du denn dabei bleiben. Knall und Bruch. Manchmal seid ihr Männer stur wie kleine Kinder. Meine Güte, solche Dinge passieren, ich hab mich auch dran gewöhnen müssen, ich hab mich schon lange von den Illusionen verabschiedet
– oder die anderen Patienten, jetzt ist Besuchszeit, man erkennt die Besucher am Zivil und an den unsicheren Bewegungen, Krankenwagenlichter unter dem Flurfenster fräsen gelbe Schneisen ins einbrechende Dunkel, hinter den erleuchteten Fenstern der Klinik gegenüber bewegen sich Schatten
– ich sagte zu ihr: Weißt du noch, Nizza? Morgens, die Sonne auf den Wänden, und wie die Eisverkäufer im August ihre Ware ausriefen, und wie wir in Antoines Kino gegangen sind? – Ziemlich altmodischer Kasten, genau das Richtige für dich, Brüderchen, meistens lief Nouvelle Vague, Godard und Malle, du hast noch lange danach im Stuhl gesessen und wolltest erst gehen, nachdem der letzte Name des Abspanns vorüber war. Weißt du, manchmal hab ich dich beobachtet in den Unterrichtsstunden bei Monsieur Hoffmann. Du hast schon immer gern geträumt. Er hat dich aufgerufen in der Mathematikstunde, und du warst gar nicht da. Abwesend. Im Tal der Könige oder mit Cousteau an Bord der Calypso, und dann hast du Monsieur Hoffmann angestarrt, als er sagte: Monsieur Ri-tähr, darf ich in Kürze wieder mit Ihnen rechnen? Und ich mußte so lachen. Du sahst schön aus und unbezahlbar. Und sehr komisch. Aber ich kann mich nicht an vieles mehr erinnern. Anfang Juni ging ich nach Mailand, – Doch, doch, ich war schon da, aber eben nicht dort, wo mich Monsieur Hoffmann haben wollte. Dorothea sagte: Es ist ihr dreißigster Geburtstag, Wiggo
– wie kalt es jetzt schon ist, unwirtlich, aber das Rauchenhilft, ich werde ruhiger, wenn ich dem Rauch zusehe, wie er aus dem Fenster wirbelt und verschwindet; auch wenn ich fröstele, werde ich nicht gehen, um mir noch etwas überzuziehen, auch die Ärmel meines Bademantels werde ich aufgekrempelt lassen
– dieser Mann, mein Vater, schwitzte beim Tennisspielen. Er spielt brüllendes Tennis, hieß es bei uns Kindern. So geht er bestimmt mit Konkurrenten um, sagte Dorothea, wenn Vater den weißen Ball, das Racket in beiden Fäusten, tief aus gedrehtem Oberkörper über das Netz knüppelte, unerbittlich, unermüdlich, mit braungebrannten, muskulösen Beinen, die beim Schlag ins Aschenrot des Platzes geschraubt zu sein schienen, um im nächsten Moment, wenn er den Rückschlag erwartete, federnd zu tänzeln, ganz angespannte Bereitschaft wie bei den Araberpferden, wenn sie vor dem Losschießen nur noch mühsam gezügelt werden können. Dann kam der Ball zurück – wenn er zurückkam nach einem solchen Hammer, wie wir diese Schläge nannten –, die Muskeln strafften sich, sprangen vor wie Schiffstaue, wenn eine Bö das Segel packt, Vater holte mit dem Racket aus wie ein Holzhacker, der mit der Axt den Hieb tief in den Baumstamm setzen will, die weiße Kugel flatterte übers Netz, und der hochgewachsene Mann mit dem weißen Björn-Borg-Stirnband und maßgeschneiderter weißer Tenniskleidung zog den Arm voll durch, kraftvoll, in blendender Technik, ich hörte nur ein Zischen, sah dann Dorotheas Gesicht: Jetzt macht er dich fertig, schien es zu sagen, und ich konnte kein Bedauern erkennen. Schon nach wenigen Ballwechseln war ich einen Satz im Rückstand, ich hörte Dorothea zählen: null dreißig, null vierzig, rannte über das Feld wie ein hin- und hergescheuchter Hase, während Vater die Donnerstrahlen
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