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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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geschäftlichen, muß es immer ein unberechenbares Moment geben. Er, nicht meine Mutter, schickte mich zum Friseur, viermal, fünfmal in wenigen Wochen, besah sich das Ergebnis zuhause, steckte die Zeigefinger an meine Schläfen und kontrollierte, ob es einen Höhenunterschied gab, fuhr über die Fasson und prüfte Fall und Schnitt des Haars, keine Stufe oder sonstige Unregelmäßigkeit durfte zu sehen sein. Beim sechsten Mal ging er persönlich mit mir in den Salon, der in einer muffig riechenden Gasse lag und altmodisch eingerichtet war, sah sich prüfend um, ging, ohne mich zu fragen, ob er es sei, der mich geschnitten habe, zielsicher auf den Friseur mit dem Menjoubärtchen zu, nickte und sagte: Sie verstehen Ihr Fach. Meine Mutter war Friseuse, ich weiß, wovon ich rede. Der Meister blieb stehen, die Schere in der Luft, es wurde still im Salon, in dem nie viele Kunden waren, alles starrte meinen Vater an, der weitersprach: Ihr Laden ist zu dunkel und zu abgelegen, hier haben Sie nicht die Kundschaft, die Sie haben könnten. Wenn Sie das so sehen wie ich, besuchen Sie mich zu den Geschäftszeiten, bringen Sie Ihre Unterlagen und ein Gesundheitszeugnis mit. Wir haben durchaus günstige Kredite. Er hinterließ dem schweigenden Friseur seine Visitenkarte, nickte in den Laden, befahl in meine Richtung: Komm; ich folgte ihm hinaus
    – er ist nicht so hochgewachsen, wie ich ihn in Erinnerung habe: mindestens einen halben Kopf größer als die anderen im Raum, dessen gesamte Atmosphäre sich sofort änderte, wenn er eintrat: die Blicke wandten sich ihm zu, Gespräche wurden leiser oder verstummten ganz, Weingläser blieben in der Schwebe vor den Mündern, die Bankangestellten umklammerten die Aktenmappen fester, die Frauen zupften verstohlen an Blusen und Röcken. Er betrat den Konferenzraum der Bank und sagte, indem er mich vorschob: Das ist mein Sohn, lassen Sie sich durch seine Anwesenheit nicht stören. Er geht heute mal ins Leben, nicht in die Schule. Die Umstehenden rangen sich ein Lächeln ab und folgten ihm an den massiven Eichentisch. Er eröffnete die Konferenz, indem er dem rechts von ihm Sitzenden zunickte; er ließ sich berichten, sie unterhielten sich in einer für mich beinahe unverständlichen Sprache, jemand stand auf und zeigte Diagramme auf einer Tafel, ich sah mit Filzstift gemalte Kuchen, aus denen Stücke geschnitten waren; Balken, Zahlen, Vaters knappe Zwischenfragen, er hörte reihum jedem zu, stach seinen Blick in die Augen des Sprechenden und brachte es fertig, mitten in den Rapport zu rufen: Sie halten nicht stand, Sie halten meinen Blick nicht aus. Glauben Sie, daß das einen guten Eindruck hinterläßt bei denjenigen, deren Geld Sie in Ihrem Depot haben wollen? Das weckt kein Vertrauen, und ohne Vertrauen können Sie Ihren Schalter dichtmachen! Und jetzt holen Sie mal den Antrag von diesen Seifensiedern aus Marseille hervor, die glauben, daß wir Geld zu verschenken haben
    – natürlich wußte ich, daß er mich beobachtete, daß er auch in den Momenten, wo sein Blick sich in den des bleich gewordenen Gegenübers bohrte, einen zweiten, einen geheimen Blick für mich hatte. Aus dem Zornesstrahl zweigte sich ein feinerer, argwöhnisch tastender zu mir herüber, ich dachteimmer: der Fühler eines Schalentiers, den die Unterwasserströmungen sacht auf und ab wiegen; ich spürte diesen zweiten, diesen Geheim-Blick körperlich, wußte, daß er nicht nur das arme, zusammengesunkene Individuum vor sich meinte, sondern immer auch mich, der ich in einer Ecke des Konferenzraums an einem Katzentisch saß, mit einer von Vaters Sekretärin liebevoll zubereiteten Tasse Kakao vor mir, von der ich nicht zu trinken wagte. Ich fixierte die Tasse, das danebenliegende Löffelbiskuit, wenn Vater die Stimme hob und ich den Geheim-Blick nach mir tasten spürte. Der Kakao war heiß und dampfte, kein Instantgetränk, sondern aus echtem Pulver gekocht; schokoladige Konsistenz, wenn ich darüberblies, riffelte sich eine Haut; ich ekelte mich davor. Er richtete nie das Wort an mich in solchen Konferenzen, jedenfalls nicht direkt. Natürlich nicht. Diese blieb nicht die einzige, in der ich ins Leben und nicht in die Schule ging, wie es Vater ausgedrückt hatte; übrigens war ich mir nicht sicher, ob sich die Kategorien nicht doch vermischten. Ich war gar nicht da, wenigstens nicht offiziell. Allerdings war ich zu betont gar nicht da, als daß Vaters Wort: Lassen Sie sich nicht stören, glaubhaft hätte wirken können.

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