Der Eisvogel - Roman
Für das Unsichtbarsein fehlte eine Reihe von Gründen; einer davon war, daß das Gesprächsklima die Zone des Offiziellen längst verlassen hatte. Ich erwartete nicht, daß Vater mit mir sprach, nachdem der Raum noch klirrte von einem seiner Tobsuchtsanfälle, die einen um so irritierenderen Eindruck hinterließen, je kontrollierter sie wirkten, eine Art von Faschingsgebrüll, das nach der Uhr aufschwoll und abbrach, beim nächsten Angestellten war seine Stimme sofort wieder sachlich, geschäftsmäßig. Die Verwirrung rührte daher, daß man nicht genau wußte, ob das ganz ernst zu nehmen war. Brüllen wirkt selten humoristisch; aber wenn es nach abgezirkelten Regeln geschieht, hat es etwasLächerliches. Ich erwartete nicht, daß er mit mir sprach, hatte aber zugleich genau davor Furcht: daß er nicht die Scham verspüren könnte, sich auf Kosten des anderen zu amüsieren, oder daß er roh und bedenkenlos genug sein könnte, sie beiseite zu wischen, Scham und Gehemmtheit, die wohl die meisten Menschen, in Erwartung von eisigem Schweigen, Blamage, gräßlicher Unangemessenheit der sich ergebenden Situation, zögern und hinunterschlucken läßt und davon abhält, das zu äußern, was sie wirklich denken. Ich traute es ihm zu, das schauerlich rücksichtslose Lachen, das sich um die Erwartungen der anderen nicht kümmert und ihnen dadurch Verachtung und Geringschätzung ausdrückt. Ich dagegen fürchtete die Unwürdigkeit einer solchen möglichen Situation, mir war schon die entstandene peinlich genug, ich schämte mich, diesen Konferenzen beiwohnen zu müssen und als der Sohn des Direktors für halb und halb mitschuldig gehalten zu werden: erstens eben als Sohn dessen, der an der Stirnseite saß, Anordnungen erteilte, die mehr wie Befehle klangen, der in kürzester Zeit die Unstimmigkeiten in den Ausarbeitungen bloßstellte und sie so aus den gestammelten Rückzügen seiner Assistenten heraushieb, daß diese wie Schwachsinnige dastanden; zweitens mitschuldig, weil ich vermutete, daß Vater ein Schauspiel abzog, in dem er sich vor seinem Sohn in der Rolle des Prinzipals sonnte, der auf der Bühne unter ihm die Marionetten nach Belieben zappeln läßt. Es war nur ein Verdacht, ich wußte nicht, wie Konferenzen abliefen, bei denen ich nicht zugegen war. Halb und halb mitschuldig? Ich sah zuerst betretene, dann aber zunehmend ungehaltene und wütende Blicke, unter Anspannung spielende Kaumuskeln; einige ältere Angestellte wippten aufgebracht mit ihren Schuhen, atmeten vernehmlich ein und aus, wie um Anlauf zu nehmen zu einer unerhörten Tat, im Widerstreit zwischenUnmut, Loyalität, Angst, Qual – und wollte mich auf das Halb und Halb nicht mehr verlassen. Ich starrte auf den Kakao, dessen Haut immer fester wurde, und bildete mir ein, daß sie wütend auf mich sein mußten, nicht so sehr, weil ich der Sproß jenes Tyrannen dort vorn war und also auch nicht viel besser sein konnte, sondern weil er, dieser Tyrann, mich zum Zeugen ihrer Demütigung machte. Sie waren wütend auf mich, weil sie spürten – dachte ich –, daß ich alles verstand, was vorging. Daß der oder die, im schwarzen Anzug mit seidenem Einstecktuch oder im fliederfarbenen Pariser Kostüm, etwas getan hatte, was mit dieser Kleidung nicht im Einklang stand, was sie nicht berechtigte, sie zu tragen, da sie offenbar nicht mehr taugten als jeder Fliegenschnäpper – einer von meines Vaters Lieblingsausdrücken, erst später ersetzte er ihn durch das weit glanzlosere Loser –, der draußen herumlief und um einen schäbigen Kredit zu ihnen betteln kam, an dem sie noch genüßlich herumknauserten. Ich fühlte, daß ich in ihren Augen schuld daran war, mindestens aber schuld sein konnte, daß Vater sie wie kleine Spießbürger behandelte und herunterputzte. Diese Einbildung verfestigte sich wie in Form gegossenes Wachs, wandelte sich zur Gewißheit, und sie peinigte mich so stark, daß ich meine ganze Konzentration aufbot, um aus den Augenwinkeln ein schärferes Bild der Verhältnisse zu erhaschen; erhitzt von der Qual, in diesem Raum sein zu müssen und nicht zu wissen, wie ich ihn mit Anstand – für die anderen, für mich – würde verlassen können. Ich schärfte alle meine Sinne zu äußerster Empfindlichkeit; ich wagte nicht, den Kopf zu heben und frei den anderen in ihre Gesichter zu sehen. Ich ahnte, daß diese Geste so etwas wie Einverständnis mit meinem Vater bedeutet hätte, der Sohn des Aufsehers, der an der Seite seines Erzeugers den Blick
Weitere Kostenlose Bücher