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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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möglich, daß der simple und robuste Gedanke der Wahrheit am nächsten kommt und diejenigen sich am weitesten davon entfernen, die die ausgeklügeltsten Schleifen drehen. Der Alltag und die Prämissen routinierter Kriminalkommissare, die sie wie Schlüssel in die Schlösser ihrer Fälle stecken, scheinen das nahezulegen. Ich glaubte nicht daran, nicht in diesem Fall. Ich glaubte nicht an das Klischee vom geradlinig gestrickten, plumpen Geldmenschen. Manchmal saß ich am Katzentisch und fragte mich, was passieren würde, wenn ich aufstünde und sagte: Du betrügst Mutter. Das allerdings habe ich nie gesagt. Gesagt habe ich nie etwas, ich habe mich immer nur verhalten
    – nein
    – denke ich jetzt, werfe die zusammengekniffte Kippe aus dem Fenster
    – ich wollte es nie. Auch wenn du mir Angebote machtest, durchaus verlockende darunter, denn großzügig bist du immer gewesen. Aber ich wollte nicht, wie du es nanntest, in deine Fußstapfen treten, ich wollte dir nicht nachfolgen

[ JOST F. {...}] Arbeit an der Antwort, so hatte es Wiggo einmal genannt, als ich ihn fragte: Warum Philosophie, ist es nicht wichtiger, etwas zu tun? Haben nicht die Philosophen die Weltnur verschieden interpretiert, es kömmt aber darauf an, sie zu verändern ? Eben, sagte er, aber um sie verändern zu können, muß man sie verstehen, sie also interpretieren; heute suchen die Menschen, aber niemand findet mehr, alle hinterfragen, aber niemand hat den Mut zu einer Antwort, und was wir brauchen, heute mehr denn je, ist genau dies: eine Antwort. War es nicht immer so, sagte ich, hast du mir nicht selbst erzählt, wie dich das philosophische Treiben, diese Dialektik, oft ermüdet, jeder einigermaßen Belesene mit Sinn für Details und Widersprüche kann jeden widerlegen, wenn es darauf ankommt und das Seziermesser seines Verstandes scharf genug ist, hast du dich nicht über die Unsicherheit deines Metiers beklagt? Daß der Philosoph X dem Philosophen Y widerspricht und umgekehrt und daß jedwedes System, mag dessen Schöpfer auch noch so berühmt sein, seine Anfechtbarkeit schon in sich trägt? Was taugen Heidegger, Platon, Kant neben der Präsenz eines Zahnarztbohrers, dessen Hornissensirren sich deinem Zahnschmerz nähert? Eine Frage, die du mir gestellt hast.
    Wir haben oft miteinander gesprochen, oft über solche Angelegenheiten. Ich fand es merkwürdig, daß Wiggo, wohin er auch kam, es immer schaffte, das Gespräch von langweiligsten Alltäglichkeiten zu existentiellen Grundfragen zu kippen. Anfangs saßen wir da und knabberten Chips, sprachen über diesen und jenen, den wir kannten, wer mit wem ein Verhältnis habe, was der Kommilitone tue und jene Kommilitonin, und dann kam Wiggo, stellte ein paar Fragen, und am Ende, nach stundenlangem Kampf, der uns völlig erschöpft zurückließ, aber nicht ihn, hatten wir uns zwar nicht gelangweilt, aber auch keine Gewißheiten mehr. Er federte regelrecht nach solchen Diskussionen, wurde immer energiegeladener, je mehr wir ermatteten (Dorothea meinte, er sauge uns aus), und ich glaube, er ging nach Hause und begann dann erst mit seinerArbeit. Für ihn war das wohl so etwas wie Sparringskampf und Training. Wir sprachen über mathematische Beweisführungen, das Vierfarbentheorem, Aussagenlogik, Kierkegaard und bestimmte Sprachfiguren, tückische Hologramme, die auf den ersten Blick einfach wirkten, bei näherem Hinsehen aber hochkomplex wurden; Dieser Satz ist falsch beispielsweise oder Alle Griechen lügen, sagte der Grieche, das mußte dann soweit wie möglich aufgefasert werden; solche Sachen liebte er besonders. Ich glaube, daß er damit einigen gewaltig auf die Nerven fiel. Sie wollten ausspannen und sich von ihren anstrengenden Arbeitstagen bei Klatsch und Tratsch und einem kleinen Imbiß erholen, vielleicht mal ein nettes unkompliziertes Video anschauen, da kam Wiggo und bohrte und wühlte unerbittlich nach den Geheimnissen, die die Welt im Innersten zusammenhalten. Merkwürdigerweise gefiel er den Frauen. Die Männer schüttelten die Köpfe und wollten immer sofort wissen, womit eigentlich er sein Geld verdiene. Die Titulierungen, die auf dem Heimweg manche für ihn hatten, brauche ich hier nicht zu nennen. Wortloses Achselzucken war noch die freundlichste Reaktion. Er beobachtete mich, wenn wir bei Dorothea den Abend verbrachten, wenn ich versuchte, den Kreis aus Fachchinesisch, der sich bei solchen Treffen regelmäßig bildete und Wiggo ausschloß, noch mehr zu dem Außenseiter machte, als

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