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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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der vor der Küste Alaskas auf Grund gelaufen ist und durch das ausgelaufene Öl Hunderttausende Tiere getötet hat, hatte das Öl auch für deine Lampe, der du von Gier redest, nein, es ist keine Gier, sie wollen alle nur leben, sagte ich, Mauritz’ Tirade ging mir auf die Nerven, reizte mich, und gerade deshalb reizte sie mich, weil ich seiner Stammtisch-Philosophie in vielem zustimmen mußte, weil er es wagte, Gedanken, die auch ich schon gedacht hatte, die in mir wie Würmer bohrten und krochen und die ich vor anderen bisher sorgfältig verborgen hatte, auszusprechen, zu benennen als Wahrheiten oder jedenfalls als Ansichten, über die zu diskutieren der Arbeit des Chirurgen ähneln würde, die schmerzhaft und gefürchtet, aber notwendig ist, – Wie würdest du es dann nennen? fragte er mich
    – gebannt hörte ich dem alten Kaltmeister zu, beobachtete seine mageren Hände, die selbst wie unruhige helle Tiere über den Tisch und die aufgeschlagenen Folianten glitten, ich habe seinen prononciert gesprochenen Vortrag wie damals im Ohr, das Ticktack der mächtigen Standuhr und hin und wieder das Klingen von Glas auf Glas, wenn Mauritz hinter uns die Teetasse absetzte; er hörte zu, trat aber nicht an den Tisch heran, vielleicht hatte er diesen Vortrag schon oft gehört, bei so manchem Studenten, der seinen Onkel besuchen gekommen war, vielleicht ekelte er sich auch vor den Bildern, die aufgeblättert lagen, oder sie waren ihm einfach nur gleichgültig: Termitensoldaten mit gewaltigen Harnischen, erzeugt vom Geist des Termitennestes, wie der Professor nach kurzem Zögern das unbekannte Element bezeichnete, das die Staatsgeschicke dieses Insektenvolks geheimnisvoll lenkte, – Denn die einfacheTermite ist wehrlos, kommt sie ans Licht, ist sie verloren; nur wenige Arten sieht man außerhalb ihrer Zementfestungen; sie ist blind, waffen- und flügellos und ist so der Ameise, ihrem schärfsten Feind, von vornherein unterlegen; aber dieser Geist des Termitennestes verfügt, wie übrigens auch der der Bienen, über eine Fähigkeit, die dem Menschen – soll man sagen: gottseidank? – noch fehlt: Nahrungszusammensetzung, Bruttemperatur, Lüftungsverhältnisse werden geändert, und aus einem Ei, aus dem sonst ein Arbeiter geschlüpft wäre, entwickelt sich solch ein monströser Schlagetot, der für nichts anderes als für den Kampf gemacht ist – hier, dieses Foto: Ameisen dringen in den Termitenbau ein, die Soldaten halten sie auf, so gut es geht, und wissen Sie, was dahinter passiert? Die Arbeiter mauern in aller Eile alle Öffnungen der Gänge zu. Die Soldaten werden geopfert, aber der Feind bleibt draußen
    – Interessenkonflikte, Mauritz, ich nenne es einfach: Interessenkonflikte; Robinson Crusoe ist frei, solange er allein ist. Taucht Freitag auf, gibt es verschiedene Interessen
    – sie sind empfindlich, außerordentlich sogar. In einem mitteltemperierten Klima können sie nicht leben. Noch nicht. Herrschen weniger als zwanzig Grad, erfrieren sie, über sechsunddreißig Grad sterben die Protozoen, auf die sie angewiesen sind, der Verdauung wegen. Aber dort, wo sie es aushalten, richten sie schlimme Verwüstungen an. Termes Indiae calamitas summa, schreibt Linné. Häuser stürzen ein, vom Erdgeschoß bis zum Dach zernagt; Möbel, Wäsche, Papier, Kleider, Leder, Vorräte, Holz: alles verschwindet. In Sankt Helena stehen zwei Polizeisoldaten plaudernd unter einem Meliabaum, der mit Blättern bedeckt ist, einer der beiden lehnt sich an den Stamm, und der riesige Fieberbaum, im Innern vollständig zerfressen, nur die Rinde ist verschont geblieben, zerfällt zu Mehl und Trümmern. Ein Pflanzer kehrt nach einerWoche Abwesenheit in sein Haus zurück, alles ist intakt, nichts scheint verändert zu sein, er setzt sich auf einen Stuhl – der Stuhl bricht zusammen. Er hält sich am Tisch fest – der Tisch zerfällt zu Brösel. Er stützt sich an den Tragpfeiler – der Tragpfeiler stürzt ein und reißt das Dach in einer Staubwolke mit sich. Sie durchbohren den Siegellack oder die Stanniolkapseln auf den Flaschen, um an den Pfropfen zu gelangen. Die Flüssigkeit läuft aus. Vom Weißblech der Konservendosen raspeln sie die deckende Zinnschicht ab, spritzen über das bloße Eisen einen Saft, der es rosten läßt, und ist es genügend zerrostet, wird es zernagt. Die Australier stellen Koffer, Kisten, Betten auf umgedrehte Flaschen, deren Hals in den Boden eingelassen ist – die Termiten, so sollte man meinen, können die

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