Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
einen Stamm, aber es sind zwei Stämme darauf angewiesen. Wenn der eine Wasser entnommen hat, bleibt für den anderen nichts mehr, und da man aber Wasser zum Leben braucht, gibt es zwei Möglichkeiten: Frieden und weniger Wasser für alle – oder Krieg und genug Wasser für den Stamm, der den Krieg gewinnt. – Blödsinn, ich habe noch nie gehört, daß Wasser aus einem Brunnen nicht für viele Menschen reichen soll ... Wenn es ein Brunnenist und keine Zisterne. – Ich schon, und außerdem habe ich von Menschen gehört, die Macht wollten und sich, als sie den Brunnen und das Treiben darum eine Weile beobachtet hatten, etwas ausdachten – wie man ihn nämlich mit Waffengewalt an sich bringen kann, so daß der andere Stamm nichts mehr bekommt, oder nur gegen Tribut. Eitelkeit, es ist die Eitelkeit, Wiggo. Die Eitelkeit, die sich im Eigennutz verbirgt ... – Nein, Mauritz, das denke ich nicht. Alles geschieht aus einem einzigen Grund: der Angst vor dem Tod
    – Sie werden mich vielleicht jetzt verlachen, Herr Ritter, ein philosophierender, übrigens auch schon emeritierter Zoologe, der in seinem Institut noch ein Narrenstübchen hat, in dem er ein wenig Allotria treiben darf; und dieser alte Knabe, Kaltmeister lachte und hielt die Brille wieder gegen das Licht, fragt sich, was es ist, das Rätsel der Schöpfung ... Was ist es, Herr Ritter? Kennt Ihre Fakultät es, kennen es die Philosophen, gibt es eine Theorie, eine Lehrmeinung, wie fragwürdig und problematisch auch immer, mit der Sie begreifen, warum das Gesetz der Natur das Fressen und Gefressenwerden ist; warum die Gottesanbeterin, indem sie im Akt das sie begattende Männchen verschlingt, einen tiefen Sinn erfüllt, die Schönheit eines Schmetterlings nichts ist als die Schönheit meines Blicks auf ihn, eine Symmetrie-Kundgebung ... Ich weiß, ich bin ein alter Kauz und habe Sie gewiß schon gelangweilt mit meinen Ausführungen
    – aber diese Leute im KaDeWe, all diese Leute mit ihrem Haben-haben-haben-Wollen, warum ... machen sie das, kannst du es mir erklären, es gibt doch genug für alle, – Nein, es gibt nicht genug für alle, nicht genug Ruhm, Geld, Geld ist nichts anderes als ein Gleichnis für Leben, es ist verwandelte Chance, einlösbares Leben
    – Tod ... Daß es die Zeit gibt und damit den Tod. Der Todist das schwarze, gleichmäßig und grausam schlagende Herz der Natur, und die geringe Wärme, die sein Pulsschlag sendet, nennt man Liebe ... Verzeihen Sie mein Pathos, es ist ganz und gar unangebracht. Kaltmeister setzte die Brille auf, betrachtete seine Hände, runzelte die Stirn. Tasso kam und strich um seine Beine. Ja, mein Junge, sagte Kaltmeister und klopfte dem Tier die Flanke, ich weiß. Hast Hunger
    – warum Philosophie ... Vielleicht, weil ich nie loslassen konnte, lieber Mauritz; ich denke es jetzt, als Rekonvaleszent in einem Krankenbett der Charité, aber ich sagte es ihm damals nicht, während unseres Spaziergangs an der abendlichen Havel; vielleicht, weil die Dinge mich bestürzten – daß ich einen Tisch, einen Stuhl, das Muster des Lichts auf einem Vorhang sehe, der vor dem Fenster meiner Kindheit weht, und daß etwas dazwischenkommt, das ich nie verstanden habe, doch immer verstehen wollte, weil es mir als etwas erschien, wogegen ich nichts vermochte: die Dinge der Kindheit, ich berühre sie; jetzt, in diesem Augenblick, strecke ich die Hand aus nach den Lichtmustern, die an einem Sommermorgen über die Wand eines Zimmers in Nizza wandern, und sie sind nicht mehr da; der kleine Junge, dessen Finger ich über die Schattenkarawanen, Turbanträger, Lichtelefanten und den Räuber Orbasan mit gehißter Wüstenfahne tasten sehe, es gibt ihn nur noch in meiner Erinnerung, Mauritz; daß Dinge mich bestürzten in ihrer Präsenz, die allmählich sich ändert, schwächer wird, aber nicht in meinem Gedächtnis, nicht im Ort, den wir sehen, wenn wir die Augen schließen; und das, was noch eben da war, ist nun nicht mehr da, ich kann sie fühlen, die Hand meiner Mutter, die aus dem Halbdunkel vor meinem Bett kommt und mir begütigend über die Wange streicht: Du hast Fieber, mein Junge, aber das wird bald überstanden sein; ich höre ihre Stimme, nicht kühl und distanziert wie sonst, sondern vonvorsichtiger Wärme erfüllt, zärtlich beinahe, was mich schon wieder beschämt: es genügt, daß sie mir Geschichten vorliest, Perraults Märchen, Jules Verne, Livingstones und Nachtigals Reisen ins Innere von Afrika
    B ald werden sie die

Weitere Kostenlose Bücher