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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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vergilbt, verschollen und mit klangvollen Namen: Linnaea Entomologica, Stettin; Jenaische Zeitschrift für Naturwissenschaft ; Verhandlungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft ; Annales de la Société entomologique Belge
    – ich wüßte schon etwas, sagte Mauritz: Analyse und die aus der Analyse folgende, logisch sich ergebende Tat
    – sie besitzt nicht den Stachel der Biene, nicht den Chitinpanzer der Ameise, sie hat für gewöhnlich keine Flügel, und sind ihr doch Flügel verliehen, beim Schwärmen, so ist es wie zum Hohn, denn die schwärmenden Termiten werden zu Massen die Beute der Vögel, anderer Insekten und Reptilien, sie lebt vorwiegend in den heißesten Tropen und stirbt, wenn ein Sonnenstrahl sie trifft, sie braucht Feuchtigkeit und lebt in Zonen Afrikas und Australiens, in denen im größeren Teil des Jahres kein Tropfen Regen fällt
    – Unruhe: tropisch wucherndes Licht im KaDeWe, Mauritz, der mit einer Mikrofilmkamera Aufnahmen machte, Fluchtwege inspizierte, die Fahrzeit des Glaslifts zwischen den Etagen stoppte und sorgfältig in ein Notizbuch eintrug, das Gesicht verschlossen, unnahbar im Gewirr der Menschen, die in den Schneisen zwischen den sich türmenden Waren hin- und hergespült wurden, nicht hastig oder ruckhaft wie in den Super- und Baumärkten, SommerundWinterschlußverkaufszonen, die ihre Darbietungen – lachende, winkende Mickymaus-Figuren, Muzak-Chöre, Sondersonderangebotsaufrufe, Goldkettchen-Herren mit umgeschnalltem Mikrophon vor Tischen mit Billigschmuck, Bettfeder-Ecken, Wühlbassins, Q-10-Pflegecremes, Küchenarmaturen, Balkonpflanzen – wie Schüttwasser über sie, die Kundschaft, ausgossen, sondern betäubter, gleitender, ohne hysterische Beschallung, mit einem Anschein von Freiheit, den Prunkbau zu verlassen, ohne einen einzigen der in Eistheken aufgebahrten Fische zu kaufen, keine der stockwerkhoch gestapelten Konservendosen, nicht diese Schattierung von Gelb inmitten von Hunderten Schattierungen von Gelb an der Käsetheke, keines der gebunkerten Sechs-, Acht-, Zehn-, Zwölf- und x-fach-Kornbrote zu kaufen, nichts aus den Fleischbänken mit ihren vielblättrigen Wurst- Leporellos, Schinken-Bocksbeuteln, in Scheiben geschnittenen Schweinen, lachsfarben lachenden Putenfilets, rostroten Rindersteaks: die Freiheit, nichts zu kaufen im Tempel des Schlemmens, Prassens und der Gaumenkitzel. Wie ich es hasse, sagte ich zu Mauritz, wie ich das und die Zeit, die so etwas möglich macht und nötig hat, hasse
    – Termes Bellicosus, Kaltmeisters feingliedrige, wie von einem gotischen Meister geschnitzten Hände nahmen einen Druck aus einer Mappe, auf dem verschiedene Arten von Termiten abgebildet waren – der Kriegerische, dessen Bauten eine Höhe von acht Metern erreichen können; der Viator, der Wanderer, einer der wenigen Termiten, die man außerhalb ihres Baus sehen kann, wenn sie in langen Reihen, die lasttragenden Arbeiter von Soldaten flankiert, den Dschungel durchziehen; die Capritermes, deren Kiefer in Gestalt von Ziegenhörnern wie Stahlfedern losschnellen und das Insekt weit fortschleudern können; und sehen Sie hier, diese Kamine, Schlote und Burgen, ihre Bauten, die aus so hartem Zement gemauert sind,daß die Schneide einer Axt daran schartig werden würde; manche Termiten leben in Baumstämmen, die nach allen Richtungen ausgehöhlt und von Galerien durchzogen sind, die bis in die Wurzeln reichen
    – es ist humanistischer konservativer Geist, Linné, Humboldt, Goethe, er hat auch mich geprägt, das macht es schwierig, davon loszukommen ... Ich weiß das. Ich bin mir darüber im klaren. Ich mag Hans sehr, ich verdanke ihm viel, aber das, was ihn umtreibt, ist ins Gestern gewandt. Kontinent Humanismus. Die Schiffe fahren weiter, und langsam verschwindet er unter dem Horizont. Es ist möglich, daß es in Wahrheit nichts anderes gibt, aber es käme auf einen Versuch an. Mauritz pflückte eine Pusteblume und blies die Fiederchen davon. Die Kultur jedenfalls, die jetzt herrscht, wird untergehen, denn sie kennt keinen Glauben mehr. Ohne Glauben aber gibt es keine Hoffnung – und ohne Hoffnung keine Zukunft. Wir sind nicht mehr naiv, wir kennen das Beginnen nicht mehr, das unwiderstehliche Arom der Frühe und des Morgens, wenn die Sonne aufgeht. Wir sind müde, und wenn wir nicht den Mut oder die Ideen zu einem radikalen Neubeginn aufbringen, werden wir sterben. Ich weiß, die Utopisten haben momentan nicht besonders gute Karten. Er lachte und zuckte die Achseln
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