Der Eisvogel - Roman
glatte, überwölbende Glasfläche nicht überwinden. Aber sie sind Chemiker. Nach einigen Tagen haben sie das Glas wie mit Schmirgel abgeschliffen, sie schaffen also etwas, was noch nicht einmal Salz- oder Schwefelsäure schafft, sie produzieren eine Flüssigkeit, die nicht nur die Kieselsäure in den ihnen zur Nahrung dienenden Krautstengeln, sondern auch Glas zerstört. Im Kongo gibt es Gegenden, wo die Eisenbahnschwellen jährlich erneuert werden müssen, ebenso die Telegraphenpfähle und Brückengerüste. Von einem Kleidungsstück, das Sie über Nacht draußen lassen, finden Sie am nächsten Morgen nur noch die Metallknöpfe
– Hans hat dich fasziniert, stimmt’s? Mauritz sah sich nach mir um und forschte in meinem Gesicht. Ich wich seinem Blick aus, ich war es nicht gewohnt, nach meinen Empfindungen gefragt zu werden. Er steckte die Hände in die Taschen und reckte sein Gesicht in die Sonne, die in der Havel schmolz zum klagenden und eintönigen Ruf eines Vogels. Aber was will es beweisen? Ich meine, diese Termiten und ihre Organisation ... Alle diese Schriften, die er da studiert,kommen marktschreierisch daher, sind aber eigentlich wenig bedeutsam, indem sie die Kenntnis des Menschen kaum erweitern ... Sie haben ein Belüftungssystem, eine Armee, verfügen über die Fähigkeiten von Baumeistern ... Und? Mit gewaltigem Aufwand wird etwas bestaunt, das die Menschen auch – und besser – haben ... Viel interessanter als das Sozialsystem der Termiten ist doch das Sozialsystem von uns Menschen, wieviel feiner verzweigt als deren Staat ist der unsrige, und die Technik, mit der ein Hochhaus beheizt, bewässert, belüftet wird, dürfte um einiges komplexer sein als die einer Termitenburg ... Was ich damit sagen will, ist: Warum studiert er statt des Termitennests nicht ein Menschennest wie Berlin oder New York? – Ich finde seine Ausführungen sehr interessant. – Das habe ich bemerkt, ich habe dich beobachtet, gelangweilt hast du dich offenbar nicht. – Nein. Es gefällt mir, daß ein Mensch einen Nachmittag damit zubringen kann, Bücher über Termiten hervorzuholen und sich mit einem Besucher wie mir darüber zu unterhalten. – Unterhaltung, na ja. Auch so eine Sache. Du mußt bedenken, daß er seit Jahrzehnten Vorträge vor Studenten und Mitarbeitern hält. – Er ist ein Hochschullehrer, und die scheinen in den meisten Fächern ein monologisches Dasein zu führen. In der Philosophie ist das etwas anders. Meist jedenfalls. – Erzähl mir von dir. Was machen deine Eltern? Hast du Geschwister? Wie bist du ausgerechnet darauf gekommen, Philosophie zu studieren? Was haben deine Eltern dazu gesagt? Ich nehme an, sie haben vor Entsetzen die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Er lachte
– sie erscheint Ihnen unmenschlich, diese Organisation, ich sehe es Ihrem Gesicht an. Kaltmeister schmunzelte, nahm die Brille ab, rieb die Gläser mit einem Taschentuch blank, hielt sie prüfend gegen das Licht. Nun, es ist die gleiche Organisation, die wir in uns tragen. Wir streifen das Gebiet derMoral, ich weiß es. Ganz unmoralisch gesprochen: Glauben Sie, daß ein Entomologe auf die Idee käme, den Lebenswandel seiner Insekten moralisch zu beurteilen? Diese Termiten – was spricht dagegen, sie als einen Organismus aufzufassen? Nicht als Individuen, wie Sie und ich eines sind, sondern als Zellen, die zusammen einen Körper bilden ... Das gleiche Aufopfern zahlloser Teile für das Ganze, das gleiche Verteidigungssystem. Ihre Phagozyten, Herr Ritter, arbeiten ebenso kannibalisch gegen abgestorbene, unnütze oder aus den Regelsystemen ausbrechende Zellen wie die Arbeiter dieses Volks; die gleiche Spezialisierung der Teile auf Ernährung, Fortpflanzung, Atmung undsoweiter ... Und wer steuert? Wer oder was ist die Anima hinter diesen Phänomenen? Kennt die Philosophie, Herr Ritter, tiefergehende Erklärungen für den lebenden, planenden Geist hinter den Phänomenen als den Willen Schopenhauers, Bergsons élan vital, die leitende Idee Claude Bernards ... Mag sein, daß ich hier an der Oberfläche bleibe und Sie innerlich abwinken. Es ändert nichts am Vorhandensein des Phänomens, wie unbeholfen und wenig fachgerecht meine Deutungen auch immer sein mögen ... Sie sehen, daß auch Naturwissenschaftler durchaus einen Sinn für Angelegenheiten besitzen, die hinter dem erscheinen, was man messen, wiegen, experimentell verifizieren kann
– Interessenkonflikte. Nehmen wir einen Brunnen in der Wüste. Sein Wasser genügt für
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