Der Eisvogel - Roman
Kaltmeister rückte an seiner Brille, nachdem seine Kornblumenaugen auf meinem Gesicht nach Zeichen von Ermüdung oder Desinteresse geforscht hatten, zog einen Quartband heran, W. Saville-Kent, The Naturalist in Australia, ich sah Fotografien von Termitenstädten, Feldern mit Stalagmiten, getürmten Schlammhaufen, vulkanischen, erstarrten Steinblasen, Riesenkinder-Kleckerburgen gleichenden Nestern; sah Bauwerke der Kompaß- oder Magnet-Termite, die immer in Nord-Süd-Richtung liegen, aufgestapelten Stämmen undverwitterten Heuschobern ähnelnd, ungeheuren, mit Strohmieten bestandenen Feldern, den Gräbern des Tales Josaphat, einer verlassenen Tonwarenfabrik; andere besaßen Türmchen, schmutzbewimpelte Galerien, Zinnenflor, Schwibbögen; unzählige Strebepfeiler stützten die übereinandergreifenden Zementlagen, erinnerten an Kathedralen, an denen Jahrhunderte genagt haben. Die Termite ist blind, sagte Kaltmeister, sie baut die Häuser nicht wie wir von außen nach innen, sondern von innen nach außen, und das über viele Generationen. Diese Bauten müssen alt sein. Ihr Wachstum ist ein sehr langsames; von einem Jahr zum anderen sieht man keine Veränderung, wie aus dem härtesten Stein gemeißelt widerstehen sie tropischen Unwettern, den Monsunregen, der ewigen Schleifarbeit des Windes. Unter einer Kuppel aus zerkautem Holz, von der ein Gewirr von Wegen ausstrahlt, im Mittelpunkt der Stadt, befindet sich ein kugelförmiges Gebilde, dessen Umfang, auf menschliche Verhältnisse umgerechnet, größer wäre als der der Petersdom-Kuppel. Das Nest ist mit Millionen kleiner Larven besetzt und von Lüftungsöffnungen durchsiebt. Darunter befindet sich die Zelle der Königin, die auch der König bewohnt – verborgen unter dem enormen Bauch seiner Gattin, die dreißigtausendmal größer ist als ein Arbeiter und ihre Kammer nicht zu verlassen vermag, eine Fortpflanzungs- und Ausstoßungsmaschine, ein mit Eiern bis zum Platzen aufgeschwemmter Bauch, der täglich dreißigtausend Eier legt, also
– Gier, sagte Mauritz, sie schlendern durch diesen Vorratsspeicher mit völlig ruhigen Mienen, unaufgeregt, als bestünde hier überhaupt kein Anlaß, etwas pathetisch zu nehmen, das ist ganz und gar gewöhnlich, Menschen gehen einkaufen im KaDeWe, und dabei ist es die Gier, die hier spazierengeht, nichts anderes, jeder will nur haben haben haben, das ist das Grundübel, das ich immer wieder beobachte; alles kommt ausdieser Wurzel, die man ausrotten muß, will man wirklich etwas ändern ... Pascal meint, alle Übel der Welt rührten aus dem Umstand, daß die Menschen nicht in der Lage seien, ruhig in ihren vier Wänden sitzen zu bleiben, ich glaube, es ist die Gier
– rund elf Millionen Eier jährlich, sagte Kaltmeister, die nach unten gerutschte Brille hochschiebend, aus denen sich drei Sozialformen entwickeln: die Arbeiterkaste, die Kriegerkaste und die Fortpflanzungskaste. Die Arbeiter ernten, verarbeiten und verdauen die Zellulose, sie ernähren alle anderen Bewohner, denn weder die Krieger noch das Königspaar sind imstande, das Lebensmittel der Termiten, die Zellulose, zu nutzen. Inmitten des Überflusses würden sie verhungern ohne die Arbeiter. Die einen, weil ihre Kiefer zu Schlachtwerkzeugen mutiert und so unförmig sind, daß sie den Weg zum Mund versperren, die anderen, weil sie keine bei der Verdauung behilflichen Protozoen in den Eingeweiden haben. Es herrscht Kommunismus in diesem Staat, der einzige, der funktioniert, der Kommunismus des Schlundes und der Eingeweide. Wenn eine Termite Hunger hat, stößt sie den vorbeikommenden Arbeiter mit den Fühlern an. Ist der Bittsteller noch jung, kann er sich also noch zu einer Königin oder einem König entwickeln, liefert der Arbeiter das zum Fressen ab, was er im Magen hat. Ist er ein ausgewachsenes Männchen, dreht er ihm das Hinterteil zu und überläßt ihm, was sein Darm enthält ... Nichts geht verloren in dieser Republik, keine abgelegte Haut – sie wird sofort gefressen –, kein Leichnam, auch er wird verzehrt. Abfälle gibt es nicht. Alles ist eßbar, alles ist Zellulose, und die Exkremente werden immer wieder ausgenutzt. Die Galerien sind von innen mit der größten Sorgfalt geglättet und gefirnißt. Dieser Firnis besteht aus Kot
– die Tür mit dem eingeätzten Schiff schlug hinter unszu, wir verließen das KaDeWe. Die Gier? Wenn du sagst, daß das Grundübel der Menschen die Gier ist, so übersiehst du das Recht jedes Menschen auf Leben, und der Öltanker,
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