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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Nachtmedizin austeilen, die eine oder andere Infusion anhängen, und ich werde das Donnern des Verbandswagenrades noch einmal hören, einige Frischoperierte sind aus dem OP gekommen, die Verbände sind von den Assistenten manchmal schlecht angelegt, weichen durch, suppen durch, wie es die Schwestern ausdrücken, und müssen erneuert werden. Krankenwagen jaulen, draußen ist es dunkel, Wintersternbilder, bald kommen die Stunden, in denen ich das Geräusch vorüberfahrender Züge von der Bahnstrecke hinter der Charité hören kann und das Zimmer sich von mir zu lösen beginnt. Das Nachtlicht wird eingeschaltet werden auf den Fluren, ein strähniges, eiterfarbenes Licht; die Schatten werden wandern und langsam die Haube aus Dunkel über die Wände ziehen, dann greifen sie wieder nach mir, die Ängste und Stimmen, die in der Einsamkeit und auf den Zungen des Fiebers herantreiben, das auf das Nachlassen des Lichts zu warten scheint, um zu steigen und mich von der Durchlässigkeit der Gegenwart zu überzeugen. Jost hat mir gesagt, daß Manuela in einer anderen Klinik liegt, auf einer Intensivstation, noch nicht ansprechbar. Ich würde sie so gern anrufen, ihre Stimme hören
    – von alldem gibt es nicht genug, Mauritz, nicht genug Anerkennung, Freundschaft und Verständnis, all diese Dinge, für die sich Waffenstillstände lohnen sollen, es gibt nicht genug Liebe und
    – Zeit, Wiggo, es gibt nicht genug Zeit für all das, wirbrauchen Macht, weil die Zeit vergeht, weil wir sterblich sind, wir brauchen Kriege, um uns einzuschreiben in den Stein der Geschichte, um unsere Namen unsterblich werden zu lassen, wir brauchen Geld, weil es die Zeit gibt und den Winter, in dem wir sterben ohne Wohnung, Kleidung, Nahrung, wir werden alt und krank, und jemand muß dann Zeit für uns haben, und diesem Jemand müssen wir die Zeit, die er für uns haben soll, bezahlen ... Wir sind sterblich, Wiggo, dort ist die Wurzel, wir führen Krieg, weil wir nicht sterben wollen, und diese Gesellschaft wird ihre Verkrustungen erst dann aufzubrechen imstande sein, wenn sie das Sterben wieder lernt, wenn sie das Töten wieder lernt
    – Quitten, Dinge haben keine Augen, aber einen Blick, Odas Loft in London, Geburtstagsgäste, ein Duft, der vom Süden sprach und den ich nicht kannte. Er gehörte zu einer Frau, die auf mich zugekommen und vor der schwarzen Keramikschale stehengeblieben war, auf der die Früchte lagen. Sie war elegant, doch etwas altmodisch gekleidet, hatte schrägstehende Augen und fuchsfarbenes, lockiges Haar, das sie offen trug. In ihren Bewegungen lag etwas, das sagte: Ich bin einfach, aber dennoch unverwechselbar; doch es war nicht dies gewesen, was sie für mich sofort aus der Menge der Geburtstagsgäste gelöst hatte. Ich stand allein am Fenster, die Früchte spiegelten sich darin, sie wirkten eingefügt in das Licht des Spätsommertages, der sich über der Stadt schon aufrollte wie ein von der Feuchtigkeit, die abends von der Themse kam, gewelltes Stück Papier, bedruckt mit den im Sonnenuntergang rostrot beflogenen Häusern Westlondons und dem metallisch gefleckten Band des Stroms. Dorothea spielte Klavier, irgendeine Sting-Adaptation. Die Frau sagte nichts, auch dann nicht, als das Klavierspiel abbrach und alles lachte und Kommentare einwarf, weil jemand begonnen hatte, Chaplin zu imitieren;sie stand etwa einen Meter von mir entfernt und betrachtete schweigend die Quitten
    – wir brauchen einen Krieg, Wiggo, und alle, die da jammern und kreischen und sich beschweren und heulen und mit den Zähnen klappern, wissen das im Grund, sind aber zu feige oder zu beschränkt, um es in voller Schärfe zu erkennen und anzuerkennen, was soll das Gejammere über die steigenden Lasten und all die angeblich unlösbaren Probleme, die Wahrheit ist, daß wir gemacht sind, um zu töten und den Tod, mit dem andere uns bedrohen, abzuwehren, der Krieg ist der Vater aller Dinge, aber du bist hier der Philosoph; er hatte sich abgewandt und die letzten Worte mit deutlich spürbarer Verachtung ausgesprochen, Philosoph: Schwätzer, Bewohner des Elfenbeinturms, Geistesmensch, nicht Tatmensch
    – London, waren wir glücklich, ich sah ein Bild: Aufscheinen von Stille, so unscheinbar wie die Geste, mit der Oda morgens ihre Handschuhe anzog und ihre Finger darin streckend bewegte, die Hand plötzlich ein dunkelblauer Stern in den klaren Spiegeltiefen; die Frau beugte sich über die Früchte, das feinmaschige, wie von einem unbekannten Zustand in einen

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