Der Eisvogel - Roman
gelesen. Manuela
– am selben Tag ein Termin in Pforzheim, der Schwarzwald als hitzeflirrender Riegel in der Ferne, Manuela preschte über abgelegene Straßen. Sie überraschte mich mit sonderbaren Fragen: Sind Landschaften scheu, was meinst du; oder: Haben Menschen einen Homunkulus, den ich sehe, wenn ich an sie denke; oder: Glaubst du, daß wir die Stille fürchten? Ich fragte: Du hast meine Dissertation gelesen? Wir folgten der Nagold, aßen Kornäpfel und saugten den Honig aus Taubnesselblüten, die an den Feldrainen so dicht standen, daß die Hummeln darüber in der Entfernung wie ein träge dünender Teppich wirkten. Manuela hielt auf einer Brücke, stieg aufs Geländer und breitete die Arme, in der Tiefe glitzerte die Nagold in der Sonne, ich hatte nicht einmal Zeit zu schreien, sehe mich noch jetzt wie in Trance aussteigen, ihre Beine umarmen, sie festhalten. Sie kippte auf mich zu. Schweratmend sah sie mich an, fuhr sich durchs Haar, betrachtete den Riß in einem ihrer Handschuhe, zog sie mit den Zähnen aus undließ sie in den Fluß fallen, wo sie davontrieben wie geheimnisvolle fünffingrige tote Fische. Wir kamen nach Calw, ich kaufte mir einen Panamahut auf dem Wochenmarkt, Manuela raffte wahllos Leinenkleider von der Stange eines sonnenverbrannten Mannes mit Nickelbrille und Prophetenbart, der bedächtig und barfuß ein Spinnrad trat, hielt sie sich kurz an, probierte keines und kaufte alle. Sie warf die Kleider achtlos auf den Rücksitz, musterte meinen Hut, Belustigung in den Augen, nicht Spott. Wir fuhren, und ich versuchte, nach ihrer Hand zu tasten, mein Gesicht und seine Hitze beschützt von der Hutkrempe, aber Manuelas Hand mit einem Ring auf dem Mittelfinger lag weiß vor Anspannung und Abwehr auf dem Schaltknüppel, die Knöchel wirkten wie geschnitzt. Sie ließ die Scheiben herunter, wir kamen auf eine Autobahnbrücke, und ehe ich den Hut festhalten konnte, segelte er auf einen darunter vorüberfahrenden Sattelschlepper voller Volkswagen. Manuela legte den Kopf zurück vor Lachen und gab Gas. Wir wollten in Donaueschingen übernachten, verließen die A 81 und fuhren durch den Schwarzwald in Richtung Süden, dem Neckar folgend; Namen aus Märchen meiner Kindheit fielen mir wieder ein, die Mutter mir vorgelesen hatte, wenn ich krank gewesen war, besonders Hauff hatte mich immer beeindruckt, Das kalte Herz mit der Sage vom Holländer-Michel und vom Glasmännlein im Tannenbühl. Manuela fuhr langsam und mit offenen Fenstern, hielt, wir machten ein kleines Picknick und wollten wieder aufbrechen, als uns das Schweigen der schwarzen Baumriesen, die Einsamkeit und das fuchsrot durchspielte Dämmerlicht, das in schrägen Schächten über die Straße fiel, bedrohlich erschienen. Es war kein Auto außer Manuelas Mercedes zu sehen, die nächsten Ortschaften lagen Kilometer entfernt. Wir erschraken, als plötzlich ein Mann vor uns stand, ohne daß wir gesehenhatten, woher er gekommen war, ohne daß wir etwas gehört hatten. Ein kleines Mädchen begleitete ihn. Er fragte uns, ob wir sie beide mitnehmen würden: Wir hatten einen Streit mit einem Freund, über Heraklit, der auch ein Freund ist, und ich lasse meine Freunde nicht beleidigen. Also sind wir ausgestiegen. Das ist meine Tochter. Sag guten Tag, Ulrike. Das Mädchen nickte. – Sie leben einander ihren Tod und sterben einander ihr Leben, sagte Manuela leise. Ich beobachtete das Mädchen im Rückspiegel, sie starrte zurück, eng an ihren Vater geschmiegt; ihre Augen waren kupferfarben im Gegenlicht und unnatürlich geweitet. – Oh, dann kennen Sie auch, was er über das Feuer sagt? warf der Mann ein. – Erscheinungsform der Weltvernunft, die ewige Unruhe des Werdens mit seinem ständigen Auf und Ab. – Es war lange trocken, sagte der Mann unvermittelt, vorhin habe ich auf einem Waldweg eine Glasscherbe gefunden, sie blinkte in der Sonne, und drunter hatte es schon zu schwelen begonnen. – Wiggo schreibt in seiner Dissertation, daß die Grundlagen der menschlichen Existenz geändert werden müssen, denn obwohl er das kapitalistische Gesellschaftssystem kritisiert, betrachtet er es als wahrhaftigste, unverzerrteste Spiegelung des menschlichen Strebens. Er sagt, daß das menschliche Streben aus Liebe und nach Liebe geht, und daß es einen Punkt gibt, von dem aus sie das Böse zeugt. Er verlangt also die Abschaffung der Liebe, wenn sich etwas ändern soll. Die Liebe ist das Transportmittel des scheinbar Guten, in der Folge aber oft Bösen. Die Liebe
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