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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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einem Kind keinen schlimmeren seelischen Schaden zufügen, als ihm konsequent und fortwährend das Selbstvertrauen auszutreiben. Kampf draußen – das nennt man Leben. Aber Kampf gegen die eigene Familie, um nur den nötigsten Atem zu haben – für ein Kind ist das dieHölle. Und wenn man das auch Leben nennt, dann lebt man nicht gern. Ich schlich um den Revolver in meinem Schrank herum, nahm ihn manchmal heraus, drehte an der Trommel, prüfte, ob die Patronenkammern gefüllt waren, nahm einmal probehalber fünf Patronen heraus und ließ nur eine darin. Russisches Roulett, Mauritz hatte es mir gezeigt
    – du drehst die Trommel, Wiggo, so, er nahm den Revolver und ließ die Trommel schnarren, aus der er eine Patrone entfernt hatte, eine Patrone von sechs, fünf waren noch darin, er lachte, als er entsicherte und sich den Lauf an die Schläfe hielt, – Nicht, nicht, Mauritz, schrie ich, bist du wahnsinnig geworden, – Ja, sagte er, wollen wir doch mal sehen, ob Gott seine schützende Hand über die hält, die ihn lieben, gibt es Gott, Wiggo, was glaubst du, wäre das nicht mal ein guter Test, Gott, schrie er aus Leibeskräften, wenn es dich gibt da oben im Himmel oder wo auch immer, dann steh mir jetzt bei, denn ich will dein Werk vollenden, ich bin dein Bote auf Erden, Mauritz beugte sich zurück und lachte aus vollem Hals, die Augen glitzerten, das Lachen brach ab, er schrie: Oder gibt es dich gar nicht, bist du gar nicht da, kann ich also ungestraft Scheißkerl zu dir sagen, Gott? Bist du ein Scheißkerl? Hast du den Juden beigestanden in Auschwitz, stehst du den Wehrlosen bei in der Welt? Gibt es dich, Gott? Dann sieh zu, wie ich diese Revolvertrommel drehe, es sind fünf Patronen drin, eine fehlt, mach, daß die eine einzige leere Kammer vor den Lauf kommt, dann glaube ich an dich, – Mauritz, laß das, damit macht man keine Scherze, hör auf, hör auf, verstehst du, ich versuchte, ihm in den Arm zu fallen, doch er wich zurück, richtete den Revolverlauf auf mich, ich sah ein böses Glitzern in den Augen, er zischte: Verschwinde, das ist meine Sache, misch dich nicht ein, klar? – Ich mische mich aber ein, du bist mein Freund, – So? lachte Mauritz, nickte, fegteeine Blumenvase vom Tisch, Hefter, Papiere. Bist du sicher? Warum kannst du dir sicher sein? Freundschaft ist göttlich, nicht wahr? Vertraust du auf Gott, kleiner Philosoph, bist du nicht ein Arbeiter im Weinberg des Herrn? Suchen nicht die Philosophen nach Beweisen für die Existenz Gottes? Er lachte und trat noch weitere Schritte zurück: Weißt du, ich habe eine Idee, vielleicht hat sie mir Gott höchstpersönlich gerade eingegeben, wer weiß? Oder – der Teufel? Vielleicht der Teufel? Haha! Du Gottsucher! Schau her, er wies auf den Revolverlauf, hier drin ist jetzt Gott, lieber Wiggo. Wie wär’s, wenn wir das Roulett an dir ausprobierten? Vielleicht liebt ja Gott mich nicht, weil ich zu hart bin und zu schlau oder wasweißich, aber ganz bestimmt wird er dich lieben ... Du bist eine unschuldige Seele, viel unschuldiger, als du vielleicht glaubst, du weißt es nicht, sieh her! Ich drehe jetzt die Trommel, bestimmt schauen der Alte und der Schwarze und ihr ganzer gelangweilter Hofstaat jetzt von oben zu und ringen um deine Seele ... Vielleicht auch um meine, wer weiß ... Haben Wetten abgeschlossen, es sähe ihnen ähnlich ... Und jetzt werde ich abdrücken, – Nein! schrie ich und stürzte auf ihn zu, aber er hatte die Pistole gehoben und den Lauf wieder gegen seine eigene Schläfe gerichtet, – Glaubst du, ich würde das an dir riskieren, zurück! brüllte Mauritz, zurück! Nein, das hab ich mir fein ausgedacht, Gott mußte die leere Kammer vor den Lauf nehmen, da er dich liebt und damit kein Unschuldiger draufgeht, aber ich richte den Lauf wieder auf mich! Geniale Idee, was? So, und jetzt will ich es wissen, zeig dich, du Scheißkerl da oben, ob du existierst, – Schluß! brüllte ich, – Schluß! brüllte Manuela, die ins Zimmer gekommen war, aber Mauritz fuchtelte mit dem Revolver herum, schrie ebenfalls, totenbleich, seine Augen leuchteten irr, er biß die Zähne zusammen und schloß die Augen, lachte wieder, hoch und schrill, Manuela kam aufihn zu trotz seiner Warnung, er ließ den Revolverlauf sinken und schloß ihn mit seiner Handfläche, lachte, sah uns an, erwartungsvoll, seine Mundwinkel zuckten, dann schnappte der Hahn, Manuela schrie; klack, nichts, ich sah Mauritz’ rotfleckiges Gesicht, nichts, der Revolver war nicht

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