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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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nicht mehr daran. Mein Freund, der bei mir war, rückte erst später damit raus. Ich soll gesagt haben: » Kein Problem, wenn man den Staub abwischt, kann man es noch essen .«
    Woher dieser Satz kam, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht hatte ich nur geträumt. Vielleicht hatte ich geträumt, dass ich mit dem Brot für das gemeinsame Schulessen die Treppe hinuntergefallen war. Etwas anderes fällt mir zu diesen Worten nicht ein.
    Auch jetzt noch, zwanzig Jahre später, gehen mir diese Worte manchmal im Kopf herum. » Kein Problem, wenn man den Staub abwischt, kann man es noch essen .«
    Wenn mir diese Worte in den Sinn kommen, denke ich über die Existenz dieses Einzelwesens namens »ich« nach und über den Weg, dem dieses Einzelwesen folgen muss. Und ich denke über den Tod nach, an dem solche Gedanken unweigerlich enden. Der Versuch, sich den Tod vorzustellen, ist, zumindest für mich, ein endloses Unterfangen. Bei Tod muss ich, warum, weiß ich nicht, an die Chinesen denken.
    2
    Der Grund dafür, dass ich damals der etwas oberhalb der Hafenstadt gelegenen Grundschule für chinesische Kinder einen Besuch abstattete (ich habe den Namen dieser Schule vollkommen vergessen und nenne sie daher im Folgenden einfach »chinesische Grundschule« – ein etwas seltsamer Name vielleicht, den man mir verzeihen möge), war, dass sie als Ort für die von mir abzulegende Vorprüfung bestimmt worden war. Es gab verschiedene Prüfungsorte, aber ich war als Einziger aus unserer Schule der chinesischen Grundschule zugeteilt worden. Warum, habe ich nie verstanden. Vielleicht war es irgendein organisatorischer Fehler. Die anderen aus meiner Klasse hatten alle Orte in der Nähe zugewiesen bekommen.
    Eine chinesische Grundschule?
    Ich fragte jeden, ob er irgendetwas über die chinesische Grundschule wüsste. Niemand wusste etwas. Alles, was ich herausbekam, war, dass diese chinesische Grundschule dreißig Minuten mit der Straßenbahn von unserem Schulbezirk entfernt lag. Da ich damals nicht zu den Kindern gehörte, die alleine mit der Straßenbahn fuhren, war das für mich gleichbedeutend mit dem Ende der Welt .
    Die chinesische Grundschule am Ende der Welt.
    Zwei Wochen später am Sonntagmorgen spitzte ich furchtbar missmutig ein Dutzend neuer Bleistifte und packte, wie vorgeschrieben, mein Mittagsbrot und ein Paar Hausschuhe in meine Plastikschultasche. Es war ein schöner, etwas zu warmer Sonntag im Herbst, doch meine Mutter ließ mich einen dicken Pullover anziehen. Ich stieg allein in die Bahn und stand, um die Station nicht zu verpassen, die ganze Zeit an der Tür und guckte raus.
    Den Weg zur chinesischen Schule fand ich sofort, ohne auf den auf der Rückseite des Prüfungszettels abgedruckten Plan zu sehen. Ich brauchte nur der Horde von Grundschülern mit ihren mit Hausschuhen und Mittagsbrot gefüllten Taschen zu folgen. Dutzende, Hunderte von Grundschülern liefen in einer Reihe alle in der gleichen Richtung einen steilen Hügel hinauf. Es war ein wirklich seltsamer Anblick. Sie spielten nicht Ball, sie rissen auch nicht den Jüngeren die Mützen vom Kopf, sie gingen schweigend den Weg entlang. Sie kamen mir wie eine ungleichmäßige, endlose Bewegung vor. Während ich den Hügel hinaufstieg, schwitzte ich unter meinem dicken Pullover.
    In ihrem Aussehen unterschied sich die chinesische Grundschule entgegen meiner Vorstellung kaum von unserer Grundschule, sie war eigentlich noch schöner. Dunkle lange Flure, feuchte modrige Luft – die Bilder, die sich während der vergangenen zwei Wochen in meinem Kopf angesammelt hatten, fand ich nirgends bestätigt. Nachdem ich durch ein stilvolles Eisentor geschritten war, folgte in sanftem Bogen ein langer, von Pflanzen eingefasster und mit Steinen gepflasterter Weg, und vorne am Eingang spiegelte das klare Wasser eines Teiches hell die morgendliche Sonne. An den Schulgebäuden standen Bäume und an jedem dieser Bäume war eine Erklärungstafel auf Chinesisch angebracht. Es gab Zeichen, die ich lesen konnte, aber es waren auch welche darunter, die ich nicht kannte. Dem Eingang lag – wie ein Patio – ein von den Schulgebäuden umrahmter viereckiger Sportplatz gegenüber, und in je einer Ecke standen eine Büste, ein kleiner weißer Kasten zur Wetterbeobachtung und eine Reckstange.
    Wie vorgeschrieben, zog ich am Eingang meine Schuhe aus und ging in das mir zugewiesene Klassenzimmer. In dem hellen Raum standen ordentlich vierzig kleine, hübsche, aufklappbare Tische, und an jedem

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