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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Dunkeln denke ich manchmal an die niederbrennenden Scheunen.

Frachtschiff nach China
    Auf das Frachtschiff nach China
möcht ich dich setzen,
es ist bestellt, nur für zwei …
    Japanische Weise
    1
    Wann bin ich dem ersten Chinesen begegnet?
    Dieser Text beginnt an einer gleichsam archäologischen Frage. An die einzelnen archäologischen Fundstücke heftet man Zettel, klassifiziert und analysiert sie.
    Also wann bin ich meinem ersten Chinesen begegnet?
    Es muss 1959 oder 1960 gewesen sein, aber das ist eigentlich egal. Genauer gesagt: vollkommen egal. 1959 und 1960 sind für mich wie ein hässliches Zwillingspaar, das die gleichen unförmigen Sachen trägt. Selbst wenn ich mit einer Zeitmaschine in jene Zeit zurückkehren könnte, bedürfte es einiger Mühe, die beiden auseinanderzuhalten.
    Trotzdem setze ich meine Arbeit fort. Der Schacht weitet sich, und langsam beginnen sich neue Fundstücke abzuzeichnen. Bruchstücke der Erinnerung.
    Genau, es war in dem Jahr, als Johnson und Patterson um den Meisterschaftstitel im Schwergewicht kämpften. Ich entsinne mich, dass ich den Wettkampf damals im Fernsehen verfolgte. Ich bräuchte also nur in die Bücherei zu gehen und die Sportseiten der alten Jahrbücher durchzusehen. Damit müsste die Frage erledigt sein.
    Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Fahrrad zur nahegelegenen Stadtteilbücherei.
    Seitlich des Eingangs zur Bücherei stand, ich weiß nicht warum, ein Hühnerstall, darin waren fünf Hühner, die ein spätes Frühstück oder ein frühes Mittagessen zu sich nahmen. Da das Wetter angenehm war, setzte ich mich, bevor ich in die Bücherei hineinging, auf das Pflaster neben den Stall und rauchte eine Zigarette. Und während ich rauchte, sah ich den Hühnern zu, wie sie aßen. Sie pickten in ihren Futternapf, als hätten sie es furchtbar eilig. Die Essensszene wirkte so hastig wie einer jener frühen Wochenschaufilme, die mit achtzehn Bildern pro Sekunde aufgenommen wurden.
    Als ich mit meiner Zigarette zu Ende war, hatte sich irgendetwas in mir verändert. Warum, weiß ich nicht. Aber ohne zu wissen warum und eine Zigarettenlänge von den fünf Hühnern entfernt, stellte mir mein neues Ich zwei Fragen.
    Die erste lautete: Wen interessierte das genaue Datum, an dem ich meinem ersten Chinesen begegnet war?
    Die zweite:Existierte zwischen den damaligen Jahrbüchern auf dem Tisch des sonnigen Lesezimmers und mir noch etwas, das uns verband?
    Die Fragen schienen mir berechtigt. Ich rauchte noch eine Zigarette vor dem Hühnerstall, dann stieg ich auf mein Fahrrad und verabschiedete mich von der Bücherei und den Hühnern. So wie die Vögel am Himmel keinen Namen tragen, tragen meine Erinnerungen kein Datum.
    Die meisten meiner Erinnerungen sind ohne Datum. Mein Gedächtnis ist furchtbar ungenau. Es ist so ungenau, dass ich manchmal sogar den Eindruck habe, als wollte ich mit dieser Ungenauigkeit irgendjemandem etwas beweisen. Aber mir ist vollkommen unklar, was das sein könnte. Beweist diese Ungenauigkeit nicht etwas, das sich unmöglich genau bestimmen lässt?
    Auf jeden Fall, wie auch immer, ist mein Gedächtnis entsetzlich unzuverlässig. Vorher und nachher verkehren sich, Realität und Fantasie gehen durcheinander, und manchmal vermischt sich mein Blick mit dem anderer. Man kann das vielleicht schon nicht mehr Gedächtnis nennen. Daher gibt es auch nur zwei Ereignisse aus meiner Grundschulzeit (diesen trüben Tagen jener tragisch-komischen sechs Jahre der Nachkriegszeit), an die ich mich noch genau erinnere. Das eine ist diese Geschichte mit dem Chinesen, das andere ein Baseballspiel, das an einem Nachmittag irgendwann in den Sommerferien stattfand. Ich spielte damals im Mittelfeld, und bei der dritten Runde erlitt ich eine Gehirnerschütterung. Natürlich wurde ich nicht einfach so bewusstlos. Der Hauptgrund dafür war, dass unsere Teams für diesen Wettkampf nur eine Ecke des Sportplatzes der benachbarten Oberschule benutzen durften. Als ich nämlich mit vollem Tempo einen Ball, der weit über das Mittelfeld flog, verfolgte, krachte ich mit dem Kopf an den Pfosten eines Basketballkorbs.
    Als ich die Augen öffnete, lag ich auf einer Bank unter einem Weinspalier. Es dämmerte schon und als Erstes drang mir der Geruch von auf trockener Erde versprengtem Wasser und der Ledergeruch eines mir als Kopfkissen dienenden neuen Baseballhandschuhs ins Bewusstsein. Ich spürte einen leichten Schmerz seitlich am Kopf. Anscheinend hatte ich etwas gesagt. Doch ich erinnere mich

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