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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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riesigen unüberwindbaren Abgrund geworden war. Sie konnte keinen Schritt weiter. Ohne einen Ton zu sagen, stand sie wie versteinert da. Ihre Haltung erinnerte mich an ein Schiff, das langsam im nächtlichen Meer versinkt.
    Ich unterbrach meine Arbeit, setzte das Mädchen auf einen Stuhl, löste ihre verkrampften Finger, einen nach dem anderen, und gab ihr einen heißen Kaffee zu trinken. Ich sagte ihr, dass alles in Ordnung sei und dass sie sich keine Sorgen zu machen brauche. Ich redete ihr zu, dass es ja noch nicht zu spät sei, dass sie die fehlerhafte Stelle einfach von Anfang an noch mal überarbeiten könne und dass sich die Arbeit dadurch gar nicht besonders verzögere. Und dass, selbst wenn sie sich verzögere, dies kein Weltuntergang sei.
    Sie blickte mich mit leeren Augen an und nickte wortlos. Als sie den Kaffee getrunken hatte, schien sie sich etwas beruhigt zu haben.
    »Entschuldige«, sagte sie mit leiser Stimme.
    Während der Mittagspause plauderten wir miteinander. Und sie erzählte, dass sie Chinesin sei.
    Unser Arbeitsplatz war ein dunkles, enges Lager eines kleinen Verlages in Bunkyō. Neben dem Lagerhaus floss ein schmutziger Fluss. Die Arbeit war einfach und langweilig, aber hektisch. Ich nahm die Lieferscheine in Empfang und trug die bestellten Bücher zum Eingang des Lagers. Sie schnürte sie zusammen und überprüfte die Bestandsliste. Das war schon alles. Da es obendrein keine Heizung gab, mussten wir notgedrungen, wenn wir nicht erfrieren wollten, ständig in Bewegung bleiben. Schneeschaufeln auf dem Flughafen von Anchorage hätte nicht kälter sein können.
    In der Mittagspause gingen wir beide raus, aßen etwas Warmes und verbrachten die Stunde bis zum Ende der Pause damit, rumzusitzen und unsere Körper zu wärmen. Der Hauptzweck der Mittagspause bestand darin, sich aufzuwärmen. Seit ihrem Panikanfall kamen wir mehr und mehr miteinander ins Gespräch. Sie redete nur wenig und mit langen Pausen, aber nach einer Weile wusste ich ungefähr über ihre Situation Bescheid. Ihr Vater betrieb ein kleines Importunternehmen in Yokohama, der Großteil der Waren waren billige Textilien aus Hongkong für den Ramschverkauf. Obwohl sie Chinesin war, war sie in Japan geboren und noch nie in China, Hongkong oder Taiwan gewesen. Sie hatte eine japanische Grundschule besucht, keine chinesische, und konnte kaum Chinesisch, war aber sehr gut in Englisch. Sie ging auf eine private Universität für Frauen in Tōkyō und träumte davon, später Dolmetscherin zu werden. Zusammen mit ihrem älteren Bruder lebte sie in einer Wohnung in Komagome. Sie war, wie sie es ausdrückte, einfach bei ihm eingefallen. Denn mit ihrem Vater verstand sie sich nicht so gut. Das war ungefähr alles, was ich über sie wusste.
    Jene drei Wochen im März waren von einem kalten Regen begleitet, der manchmal in Schneeregen überging. Am Abend des letzten Arbeitstages, nachdem wir im Kontor unseren Lohn erhalten hatten, lud ich das chinesische Mädchen nach kurzem Zögern in eine Diskothek in Shinjuku ein, wo ich schon ein paar Mal gewesen war. Ich wollte sie nicht verführen; ich hatte eine Freundin, mit der ich schon seit der Oberschulzeit zusammen war. Aber ehrlich gesagt, war es zwischen uns nicht mehr so wie früher. Sie lebte in Kōbe, ich in Tōkyō. Wir trafen uns zwei, maximal drei Monate im Jahr. Wir waren beide noch jung und verstanden uns nicht so gut, dass wir die Distanz und die zeitlichen Unterbrechungen hätten überwinden können. Ich hatte keine Ahnung, wie unser Verhältnis überhaupt weitergehen sollte. In Tōkyō war ich vollkommen allein. Ich hatte keine richtigen Freunde, und der Unterricht in der Universität langweilte mich. Ich wollte mich, ehrlich gesagt, amüsieren. Ich wollte mich mit einem Mädchen verabreden, tanzen gehen oder mich bei etwas Alkohol gemütlich mit ihr unterhalten. Nur das. Ich war erst neunzehn. Ein Alter, in dem man sein Leben genießen will.
    Sie legte ihren Kopf etwas auf die Seite und dachte fünfzehn Sekunden nach. »Ich habe noch nie getanzt«, sagte sie.
    »Das ist ganz einfach«, antwortete ich. »Eigentlich muss man gar nicht richtig tanzen. Man bewegt einfach seinen Körper passend zur Musik. Das kann jeder.«
    Zuerst gingen wir in ein Restaurant, tranken ein Bier und aßen Pizza. Die Arbeit war vorbei. Nie mehr brauchten wir in dieses kalte Lagerhaus zu gehen und Bücher zu schleppen. Wir wurden richtig ausgelassen. Ich machte viel mehr Witze als sonst, und sie lachte viel

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