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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Tisch war mit Tesafilm ein Zettel mit der Prüflingsnummer befestigt. Mein Sitzplatz war am Fenster in der ersten Reihe, ich hatte die niedrigste Nummer im Klassenzimmer.
    Die Tafel war aus funkelnagelneuem dunklem Grün, und auf dem Katheder standen eine Kreideschachtel und eine Vase mit einer weißen Chrysantheme. Alles war sauber und ordentlich eingerichtet. Am Korkbrett an der Wand hingen weder Zeichnungen noch Aufsätze. Vielleicht hatte man sie absichtlich entfernt, damit sie uns nicht ablenkten. Ich setzte mich auf meinen Stuhl, und nachdem ich Federkasten und Unterlage auf den Tisch gelegt hatte, stützte ich mein Kinn auf die Hände und schloss die Augen.
    Etwa fünfzehn Minuten später kam der Aufseher mit den Prüfungsbögen unterm Arm ins Klassenzimmer. Er schien nicht älter als vierzig zu sein und hinkte leicht, wobei er sein linkes Bein nachzog, in der linken Hand hatte er einen Stock. Es war ein grober Stock aus Kirschholz, wie man sie in den Souvenirläden an Bergsteigestationen kaufen kann. Da seine Art zu hinken sehr natürlich wirkte, fiel die Grobheit des Stocks noch stärker auf. Als die vierzig Grundschüler den Aufseher erblickten, oder besser gesagt, als sie die Prüfungsbögen erblickten, wurde es ganz still. Der Aufseher stieg auf das Katheder, legte als Erstes den Stapel Prüfungsbögen auf den Tisch und stellte dann mit einem klackenden Geräusch den Stock an die Seite. Danach überprüfte er, ob auch kein Sitzplatz mehr frei war, räusperte sich und warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr. Und mit beiden Händen an den Kanten des Tisches, wie um seinen Körper zu stützen, richtete er seinen Kopf nach oben und betrachtete eine Weile eine Ecke der Zimmerdecke.
    Schweigen.
    Etwa fünfzehn Sekunden lang sagte keiner ein Wort. Die gespannten Grundschüler hielten ihren Atem an und sahen auf die Prüfungsbögen auf dem Tisch, der hinkende Aufseher starrte an die Decke. Unter seinem hellgrauen Anzug trug er ein weißes Hemd, darüber einen Schlips, der so ausdruckslos war, dass man Farbe und Muster im nächsten Moment schon wieder vergessen hatte. Er nahm seine Brille ab, putzte mit einem Taschentuch beide Gläser und setzte sie wieder auf.
    »Ich werde Sie bei der Prüfung beaufsichtigen.« Sie sagte er. »Wenn die Prüfungsbögen ausgeteilt werden, lassen Sie sie bitte umgedreht auf Ihrem Tisch liegen. Legen Sie beide Hände ordentlich auf Ihre Knie. Wenn ich ›Los‹ sage, drehen Sie sie um und machen sich an die Aufgaben. Zehn Minuten vor Schluss werde ich ›Noch zehn Minuten‹ sagen. Überprüfen Sie bitte noch einmal, ob Sie auch keine Flüchtigkeitsfehler gemacht haben. Wenn ich ›Schluss‹ sage, ist die Prüfung zu Ende. Drehen Sie dann die Prüfungsbögen um und legen Sie beide Hände auf die Knie. Haben Sie verstanden?«
    Schweigen.
    »Und vergessen Sie bitte auf keinen Fall, als Erstes Ihren Namen und Ihre Prüfungsnummer einzutragen.«
    Schweigen.
    Er blickte erneut auf seine Armbanduhr.
    »Also, es bleiben noch zehn Minuten. In dieser Zeit möchte ich ein wenig mit Ihnen reden. Entspannen Sie sich bitte.«
    »Uff«, entfuhr einigen der Atem.
    »Ich bin ein an dieser Grundschule angestellter chinesischer Lehrer.«
    So begegnete ich also meinem ersten Chinesen.
    Ich fand, er sah gar nicht wie ein Chinese aus. Aber das war auch kein Wunder. Ich war ja vorher noch nie einem Chinesen begegnet.
    »In diesem Klassenzimmer«, fuhr er fort, »sitzen normalerweise chinesische Schüler, die genauso alt und genauso fleißig sind wie Sie … China und Japan sind, wie Sie alle wissen, Nachbarländer. Und damit alle in Frieden leben können, müssen Nachbarn gut miteinander auskommen. Nicht wahr?«
    Schweigen.
    »Natürlich gibt es zwischen unseren beiden Ländern Dinge, die sich ähneln, und es gibt Unterschiede. Es gibt Verständliches und Unverständliches. Wenn Sie an Ihre Freunde denken, ist es da nicht das Gleiche? Wie vertraut Sie einander auch sein mögen, es gibt Dinge, die Ihr Freund nicht versteht. Nicht wahr? Genauso verhält es sich zwischen unseren beiden Ländern. Aber wenn wir uns Mühe geben, werden wir sicher gute Freunde werden, davon bin ich überzeugt. Doch müssen wir in erster Linie Respekt füreinander zeigen. Das ist der erste Schritt.«
    Schweigen.
    »Überlegen Sie zum Beispiel einmal Folgendes: Angenommen, in Ihre Schule sind viele chinesische Kinder gekommen, um eine Prüfung abzulegen. So wie Sie jetzt hier sitzen, sitzen chinesische Kinder an Ihren

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