Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
Tischen. Stellen Sie sich das bitte einmal vor.«
    Hmm.
    »Am Montagmorgen kommen Sie in Ihre Schule. Sie gehen auf Ihre Plätze. Aber was ist das? Die Tische sind beschmiert und voller Kratzer, an den Stühlen klebt Kaugummi und von den Hausschuhen in der Tischlade fehlt einer. Nun, was empfinden Sie?«
    Schweigen.
    »Sie zum Beispiel«, er zeigte ausgerechnet auf mich. Das lag an meiner niedrigen Prüfungsnummer. »Freut Sie das?«
    Alle guckten zu mir.
    Ich lief puterrot an und schüttelte verwirrt den Kopf.
    »Könnten Sie solche Chinesen respektieren?«
    Ich schüttelte erneut den Kopf.
    »Also«, er drehte sich nach vorn. Endlich wandten sich alle Augen wieder zum Katheder zurück. »Sie dürfen die Tische nicht beschmieren, Sie dürfen kein Kaugummi auf die Stühle kleben und nichts mit den Sachen in den Tischen anstellen. Haben Sie verstanden?«
    Schweigen.
    »Chinesische Schüler geben eine deutlichere Antwort.«
    »Ja«, antworteten vierzig Grundschüler.
    Nein, neununddreißig. Ich kriegte meinen Mund nicht auf.
    »Gut. Heben Sie Ihren Kopf und strecken Sie die Brust heraus.«
    Wir hoben unsere Köpfe und streckten die Brust heraus.
    »Und seien Sie stolz.«
    Das Ergebnis dieser Prüfung habe ich heute, nach gut zwanzig Jahren, vollkommen vergessen. Woran ich mich erinnere, das sind die Gestalten der Grundschüler, die den Hügel hinaufsteigen, und dieser chinesische Lehrer. Und daran, den Kopf zu heben, die Brust herauszustrecken und stolz zu sein.
    3
    Da sich meine Oberschule in einer Hafenstadt befand, gab es in der Umgebung ziemlich viele Chinesen. Nicht dass sie sich irgendwie von uns unterschieden. Es gibt auch keine speziellen Eigenschaften, die nur ihnen eigen wären. Jeder Einzelne von ihnen ist anders, und darin gleichen wir uns. Ich denke immer, dass das Besondere der Individualität eines Individuums alle Kategorien und allgemeinen Theorien übersteigt.
    Auch in meiner Klasse gab es einige Chinesen. Manche hatten gute Noten, andere schlechte, manche waren fröhlich, andere schweigsam. Manche wohnten in prächtigen Villen und andere lebten in einem dunklen Sechs-Tatami-Zimmer plus Küche. Sie waren alle verschieden. Aber mit keinem von ihnen war ich besonders vertraut. Ich bin eigentlich nicht jemand, der sich unbekümmert mit jedem anfreundet. Egal, ob es sich um einen Japaner, Chinesen oder um sonstwen handelt.
    Einem bin ich zehn Jahre danach zufällig wiederbegegnet, aber davon werde ich später erzählen.
    Das Folgende spielt in Tōkyō.
    Wenn ich der Reihe nach erzähle – wobei ich allerdings meine chinesischen Klassenkameraden auslasse, mit denen ich kaum näheren Kontakt hatte –, war mein zweiter Chinese eine schweigsame Studentin, die ich im Frühling in meinem zweiten Jahr auf der Universität bei einem Ferienjob kennenlernte. Sie war, genau wie ich, neunzehn Jahre alt, klein von Statur und hübsch, wie ich fand. Wir arbeiteten drei Wochen lang zusammen.
    Sie arbeitete sehr eifrig. Auch ich war, angespornt durch sie, fleißig, doch wenn ich ihr bei der Arbeit von der Seite aus zusah, wurde mir der grundsätzliche Unterschied zwischen ihrem und meinem Fleiß deutlich. Während mein Fleiß dem Prinzip folgte, »wenn man schon etwas tut, sollte man es richtig tun«, schien der ihre dem Ursprung menschlichen Daseins zu entstammen. Es ist schwer zu erklären, aber in ihrem Eifer lag ein sonderbares Drängen, als würde die ganze Normalität um sie herum mit Müh und Not durch diesen Eifer aufrechterhalten. Die meisten kamen mit ihrem Arbeitstempo nicht mit und regten sich dann auf. Ich war der Einzige, der die ganze Zeit ohne Probleme mit ihr arbeiten konnte.
    Dennoch wechselten wir zunächst kaum ein Wort miteinander. Ich hatte einige Male versucht, mit ihr ins Gespräch zu kommen, doch sie hatte offenbar keine Lust auf Unterhaltung, und so gab ich es auf. Nachdem wir zwei Wochen zusammen gearbeitet hatten, sprachen wir zum ersten Mal richtig miteinander. An jenem Tag war sie kurz vor Mittag etwa eine halbe Stunde lang in eine Art Panik verfallen. Es war das erste Mal. Der Auslöser war ein kleines Missgeschick im Arbeitsablauf gewesen. Sicher war es ihre Schuld, wenn man von Schuld sprechen wollte, aber aus meiner Sicht war es ein Versehen, das häufig passierte. Sie war etwas unachtsam gewesen und hatte einen Fehler gemacht. Das hätte jedem passieren können. Für sie aber war es anders. Ein kleiner Riss wurde in ihrem Kopf immer größer und größer, bis er schließlich zu einem

Weitere Kostenlose Bücher