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Der Elefanten-Tempel

Der Elefanten-Tempel

Titel: Der Elefanten-Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ueberreuter
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hatte. Aber er hatte Pech – der Brief wurde zwar vernichtet, doch nicht vom König selbst, sondern von einem Bediensteten. Das gewaltige Heer König Arakhars wälzte sich weiterhin Surin entgegen.

    Etwas riss Ricarda aus ihren Gedanken. Kein Geräusch, sondern gerade die Abwesenheit von Geräuschen. Hatten alle Vögel gemeinsam beschlossen jetzt das Singen einzustellen? Hörte sich fast so an. Auch die Elefanten schwiegen. Die meisten hatten aufgehört zu fressen, die Ohren abgespreizt und den Rüssel gehoben.
    Sie alle blickten in Ricardas Richtung. Schuldbewusst versuchte Ricarda festzustellen, ob sie irgendetwas getan hatte, um die Tiere zu verärgern. Hatteder Wind gedreht und fühlten sich die Elefanten von ihrer Witterung gestört? Nein, konnte nicht sein, die Tiere kannten sie doch inzwischen, sie war keine Fremde mehr für sie.
    Da schob sich ein Schatten zwischen sie und die Sonne.
    Ein riesiger Schatten.

In Not
    Ricarda blickte hoch. Und wusste sofort, welchen Elefanten sie vor sich hatte – sie erkannte seine Silhouette und gleich darauf seinen Geruch. Der Geruch eines Elefantenbullen in der Musth .
    Khanom. Das ist Khanom . Keine fünf Meter von ihr entfernt. Deutlich sah sie die feuchten Streifen, die sich über seine Schläfen zogen, die wütenden kleinen Augen. Er musste sich irgendwie losgerissen, seine Kette gesprengt haben! Khanom ragte vor ihr auf wie ein Berg, ganz genau konnte sie seine rissige, faltige graue Haut erkennen, seine Säulenbeine, jedes einzelne so groß wie die ganze Ricarda. Ein paar Momente lang konnte sie den Blick nicht von diesen Beinen abwenden. Seine Fußnägel hatten die Farbe dreckigen Elfenbeins. Ein paar Grashalme ragten plattgedrückt unter Khanoms Fußsohlen hervor.
    Angst rieselte eisig durch Ricardas Körper, instinktiv duckte sie sich, machte sich klein. Doch Khanom schwenkte den massigen Kopf mit dem einzelnen Stoßzahn in ihre Richtung, er hatte sie gesehen und es gefiel ihm nicht, dass sie da war. Sein Rüssel tastete unruhig herum. Sie sah, dass er Luft einsog, ihre Witterung aufnahm. Erinnerte er sich noch an sie? Ja, sicher, Elefanten hatten ein verdammt gutes Gedächtnis, das war mehr als nur ein Sprichwort. Aber welche Erinnerungen waren das? Keine guten jedenfalls, sieund Sofia hatten ihn einfach nur begafft, als er am Baum angekettet gewesen war. Doch es konnten auch keine schlechten Erinnerungen sein, sie hatten ihm nichts getan. Reichte das? Wohl kaum, wenn er richtig üble Laune hatte.
    Nichts wie weg hier. Aber besser, sie rannte nicht; sie hatte keine Ahnung, wie Khanom darauf reagieren würde. Ricarda richtete sich ganz langsam auf und trat hinter den Baum, versuchte ihn als Schutzschild zu benutzen. Immerhin, der Baum war so groß, dass er ihren Körper ganz verdeckte, sehen konnte Khanom sie jetzt nicht mehr. Natürlich wusste er trotzdem, dass sie da war, er hatte sie ja vorhin gesehen und außerdem witterte er sie garantiert immer noch.
    Ricarda drückte sich gegen den Stamm, spürte die raue, sonnenwarme Rinde. Brachte es was, sich hier zu verstecken? Der Baum war zu dick, um ihn einfach umzuwerfen. Aber Khanom konnte sie wahrscheinlich mit dem Rüssel aus ihrem Versteck hervorziehen, wenn ihm danach war. Ricardas Herz hämmerte wie wild gegen ihre Rippen, und ihr ganzer Körper fühlte sich zittrig an. Würde er sie zertrampeln, sie gegen einen Baum werfen? Würde er von ihr ablassen, wenn sie sich tot stellte, oder interessierte ihn das gar nicht? Sollte sie versuchen zu schreien, Krach zu schlagen, um ihn dadurch vielleicht zu irritieren? Elefanten waren schreckhafte Tiere und trotz ihrer Größe erstaunlich ängstlich. Nein, das galt garantiert nicht für Bullen im Hormonrausch; wenn Ricarda jetztirgendetwas Blödes tat, würde ihn das eher noch wütender machen.
    Ricarda dachte darüber nach, ob sie um Hilfe rufen sollte. Sie schaute hinüber zum Haupthaus und sah, dass auch Chanida und Sofia den Bullen gesehen hatten, sie waren aufgesprungen, schrien. Doch aus der Entfernung verstand Ricarda kaum etwas, denn nun begannen die anderen Elefanten der Herde zu trompeten, tief und kehlig die älteren, schrill die jüngeren. Sie schlossen sich eng zusammen und blickten alle in Khanoms Richtung. Viel mehr konnte Ricarda von ihrem Standort aus nicht erkennen.
    Vorsichtig lugte sie hinter dem Baum hervor, um zu sehen, ob Khanom inzwischen das Interesse an ihr verloren hatte. Erschrocken fuhr sie zurück, als sie seine riesige Stirn sah, noch

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