Der Elefanten-Tempel
seinen ersten Tag im Tempel.
Diesmal wagte sie es. Sie beobachtete ihn nicht heimlich wie das letzte Mal, versteckte sich nicht im Gebüsch, sondern ging weiter, überwand sich,setzte einen Fuß vor den anderen. Ricarda stieß die Luft aus den Lungen. War gar nicht so schwer gewesen. Sie hockte sich auf einen der Baumstämme, die den Übungsplatz vom restlichen Gelände abgrenzten. Sehr gemütlich war es nicht, nach zwanzig Minuten würde ihr Hintern wehtun. Egal. Es war aufregend, Nuan ganz offen zuzuschauen. Und ehrlicher als das heimliche Beobachten, fand Ricarda. Sie hatte ein besseres Gefühl dabei.
Als Nuan sie bemerkte, hob er kurz die Hand zum Gruß, und Ricardas Herz schlug einen Salto. Es hatte sich schon gelohnt, sich hier in Sichtweite hinzusetzen. Jetzt musste sie es nur noch schaffen, mit ihm zu sprechen. Doch allein beim Gedanken daran brach ihr wieder der Schweiß aus.
Wie blöd, dass sie ihre Querflöte zu Hause gelassen hatte. Sprechen war schwer, spielen war leicht, und möglicherweise hätte sich Nuan über die Musik gefreut. Andererseits, die traditionelle thailändische Musik war völlig anders als die westliche, vielleicht klangen ihre Melodien in seinen Ohren schräg und fremdartig …
Zurück in ihrer Bambushütte holte sie das kleine goldene Notizbuch mit den azurblauen Katzen heraus, in das sie manchmal Gedanken, Bemerkungen, Beobachtungen kritzelte. Es drängte sie danach, etwas zu schreiben. Sofia las noch immer und war nicht ansprechbar, wahrscheinlich bemerkte sie nicht einmal, was Ricarda machte.
Langsam stieg eine Idee in ihr auf. Eine Geschichte. Nein, ein Märchen oder eine Legende. Sie würde eine Legende schreiben. Eine, die ganz ihr gehörte. Kurz überlegte Ricarda, ob sie auf Deutsch oder Französisch schreiben sollte. Doch das Französisch gehörte zu sehr zu ihrem Vater, nein, lieber nicht.
Ihr Stift huschte über das Papier.
Vor langer Zeit lebte ein junger Mann namens Nuan. Er war der Sohn eines Fürsten aus dem Reich Surin und berühmt für seine Unerschrockenheit und sein Mitgefühl für die Armen. Manchmal streifte er unerkannt durch das Land, in der Verkleidung eines Bettlers, um zu erkunden, wie es den Menschen ging, um sich ihre Sorgen und Nöte anzuhören. Oft ritt er dabei auf seiner Elefantin Devi, einem Tier von großer Klugheit. Sein Vater duldete diese Ausflüge. Nur manchmal mahnte er seinen Sohn, sich doch in der Kriegskunst zu üben, statt so seine Zeit zu verschwenden. Doch Nuan versteckte das wertvolle Schwert, das ihm sein Großvater vererbt hatte, lieber in einer geheimen Kammer des Palasts und zog wieder hinaus in die Dörfer.
Eines Tages verliebte Nuan sich bei seinen Wanderungen in ein Mädchen namens Ricarda. Sie war die Tochter von Flüchtlingen aus einem fremden Land und ihre Familie war arm. Jeden Tag musste sie Wasser aus dem weit entfernten Brunnen holen, Gemüse von den Feldern auf dem Markt verkaufen und die Tiere füttern. Doch manchmal fand sie Zeit, an einem versteckten Ort aufihrer Flöte zu spielen; Nuan lauschte ihr heimlich und fühlte sich wie verzaubert.
Es war in Surin nicht üblich, dass ein Mädchen einfach so mit einem fremden Mann sprach. Nuan wusste nicht, wie er sich dem Mädchen nähern und es kennenlernen konnte, ohne es in Verlegenheit zu bringen oder seine Familie zu verärgern. Vielleicht war Ricarda ja auch schon einem anderen versprochen. Als er traurig unter einem Baum lag und nachdachte, da begann auf einmal seine treue Elefantin Devi zu sprechen.
»Vielleicht kann ich dir helfen«, sagte sie. »Wenn du bei Vollmond den Saft der silbernen Palme trinkst, kannst du ihr im Traum erscheinen. Und ihr deine Gefühle gestehen.«
Dankbar tat Nuan, wie Devi es ihm vorgeschlagen hatte. Nicht als Bettler, sondern in seinen Palastgewändern traf er Ricarda in ihrem Traum und gestand ihr, dass er sie liebte.
»Wer bist du?«, fragte Ricarda, doch er wagte nicht, ihr seinen wahren Namen zu offenbaren. Und so antwortete er nur: »Der Prinz des Mondes«. Drei Nächte hintereinander teilte er ihre Träume und schaffte es dabei, Ricardas Herz zu gewinnen.
Ein Märchen, ja, und viel zu schön, um jemals wahr zu werden. Ricarda musste über sich selbst lächeln. Schluss für heute, sie würde ein andermal weiterschreiben. Sie klappte das Notizbuch zu und dachte darüber nach, wo sie es verstecken könnte – ganzhinten in ihrem Schrank? Nein, da lag das verfluchte Fernglas. Stattdessen schob Ricarda das Notizbuch schnell in
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