Der Elefanten-Tempel
sie zurück und strich ihr die Tränen aus dem Augenwinkel. »Mensch, Rica, sag in Zukunft gleich, wenn dich was stört, okay?«
»Ich versuch’s«, murmelte Ricarda.
In Sofias Stimme war ein Lächeln. »Und wenn du noch irgendwelche düsteren Geheimnisse hast – du kannst sie mir jederzeit anvertrauen.«
Wenn du wüsstest. Ricarda dachte an den Kasten mit dem Fernglas, der noch immer hinten im Schrank versteckt war, keine zwei Meter von ihnen entfernt. Und sie schwieg.
Um Mitternacht
Ricarda schlug die Augen auf. Einen Moment lang schwebte sie noch im Niemandsland zwischen Traum und Wachen, doch dann stellte sich ihr Geist scharf wie eine Kamera, war auf einmal ganz da. Ein Geräusch! Draußen. Sehr leise nur, eine Art Scharren. Nuan?
Ricarda schälte sich aus den Decken, glitt zum Fenster.
Wie üblich hatte Sofia nichts gehört und schlief friedlich. Zum Glück! Ich habe Nuan versteckt. – Ach du Scheiße. Nein, wenn das Nuan war dort draußen, dann träumte Sofia besser noch ein wenig weiter.
Auf den ersten Blick sah Ricarda nichts. Aber nun erkannte sie, dass gerade ein Elefant ganz nah an ihrer Hütte vorbeigegangen war. Im Licht des verblassenden Vollmonds war die ganze Landschaft silbergrau überhaucht, ohne Farben, doch die flappenden Ohren verrieten den grauen Riesen, und dann sah Ricarda auch einen großen gewölbten Rücken zwischen den Bäumen und Büschen. Ricarda stutzte. Es war nichts Besonderes, dass ein Elefant sich hier herumtrieb – an ihrem zweiten Tag im Refuge hatte ein junger Bulle namens Francis direkt vor ihrem Fenster von dem Mangobaum genascht –, aber ungewöhnlich fand sie, dass dieser Elefant allein das Refuge durchquerte. Die meisten Elefanten des Refuge waren am glücklichsten, wenn sie mit Freunden und Verwandtenzusammen sein konnten. Seltsam war auch, wie zielstrebig dieser Elefant ging. Er wanderte nicht einfach so herum, sondern er wollte irgendwo hin. Und zwar zum Tor, wenn er seine Richtung beibehielt.
War es Devi? Doch warum saß dann niemand auf ihrem Rücken? Außerdem hätte Nuan sich bestimmt verabschiedet, wenn er vorhatte, das Refuge heute Nacht zu verlassen, er wäre nicht einfach so an ihrer Hütte vorbeigeritten.
Ricarda behielt ihr Schlaf-T-Shirt an, streifte schnell eine kurze Hose, einen Pullover und Sandalen über. Dann schloss sie die Tür der Hütte leise hinter sich. Und ging dem Elefanten hinterher. Ihre Schuhe machten kaum ein Geräusch auf dem kurzen, stacheligen Gras und den Wegen aus festgestampfter Erde. Die Luft war kühl und es war sehr still, bis auf ein gelegentliches Blätterrascheln in den Baumkronen, wenn ein Vogel sich dort bewegte. Der Boden war noch durchtränkt vom letzten Regen, es roch nach feuchter Erde und nassen Blättern. Ricarda sog den Geruch ein und genoss die Stille. Das fühlte sich so gut an nach dem heftigen Tag gestern.
Gerade war der Elefant außer Sicht, aber nach ein paar Minuten fand Ricarda ihn wieder. Er war jetzt fast am Haupttor angelangt, wo die Rückseite des Eingangsschilds wuchtig aufragte. Der Elefant stand dort und betastete das Tor mit dem Rüssel. Ricarda blieb stehen und wartete gespannt, was der Elefant tun würde. Weiter würde er jedenfalls nicht kommen, denndie Außengrenze des Refuge war nicht nur mit einem massiven Holzzaun gesichert, dessen Tor nachts verriegelt wurde, sondern auch noch mit einem Elektrozaun.
Sie war immer noch nicht sicher, mit welchem Tier sie diese Mitternachtsstunde teilte, aber Devi war es nicht, dieser Elefant war kleiner und damit wahrscheinlich auch jünger. Stoßzähne hatte er keine, damit schieden viele der Bullen aus. Vielleicht war es die zurückhaltende Rewadee, die von einem Mahout namens Tum betreut wurde. Ricarda hatte Rewadee bisher nur von Weitem gesehen, da sie keine Übungen zu machen brauchte, sondern einfach den ganzen Tag mit Tum durch den Wald wanderte, von den anderen Elefanten aus irgendeinem Grund gemieden. Nein, Rewadee konnte es nicht sein, das war doch die mit dem verletzten Bein, weil sie in Laos auf eine Landmine getreten war. Wahrscheinlich hinkte sie und dieser Elefant hier tat es nicht.
Der Elefant am Tor tat jetzt etwas sehr Seltsames. Er schien in der Umgebung des Zauns herumzustöbern, nahm einen Ast und trug ihn im Rüssel zum Außentor. Staunend beobachtete Ricarda, wie das riesige Tier den Ast geschickt so über den Elektrozaun legte, dass die beiden oberen Drähte zusammengedrückt wurden. Das gab einen Kurzschluss, einen
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