Der Elefanten-Tempel
Ricarda mit einem Blick an, den sie bei einem Menschen vorsichtig und nichtssagend genannt hätte.
»He, das Gatter ist ja offen«, staunte Sofia. »Sie hat Freigang.«
Und ob, dachte Ricarda. Jetzt wusste sie also, wieso Laona es überhaupt bis zum Eingangstor geschafft hatte. »Vielleicht darf sie probeweise zu den anderen Elefanten, wenn sie Lust hat. Damit sie sich eingliedert in die Herde.«
Sofia nickte. »Sieht aber so aus, als bliebe sie lieber drinnen. Sicher ist sicher.«
Ricarda sah Nuan bei den anderen Mahouts , er hockte auf dem Boden und löffelte Reissuppe. Ihr Herz machte einen Sprung, sie hob grüßend die Hand und er nickte ihr zu. Noch ist er da, dachte Ricarda. Beim Gedanken daran, dass er sehr bald – wann wohl? – das Refuge verlassen würde, fühlten sich ihre Augen an, als habe jemand Pfefferstaub hineingeblasen.
Während des Frühstücks versuchte sie die Familie noch ein wenig auszuquetschen. Vielleicht konnte sie so das Rätsel von Laonas Ausflug lösen. Sie überwand sich und fragte in die Runde: »Sagt mal, was habenthailändische Elefanten eigentlich mit Tempeln zu tun?« Gott, klang die Frage blöd, hoffentlich machten sie sich nicht lustig über sie. Und hoffentlich antwortete überhaupt jemand.
Ruang tat es nicht, er ignorierte sie einfach. Als hätte er sie nicht gehört. Und Kaeo folgte seinem Beispiel, wie er das immer machte – so wie Ricarda ihn einschätzte, war er seinem Vater nie ungehorsam.
Auf diese Weise geht man also mit jemandem um, der das Gesicht verloren hat , dachte Ricarda und tauschte einen Blick mit Sofia. Plötzlich fühlte sie sich sehr müde und mutlos.
Bis sie eine Stimme hörte. Chanidas Stimme. »Viel, oh, sehr viel haben sie mit Tempeln zu tun«, sagte sie. So als sei gestern nichts geschehen, als sei Ricarda immer noch ein geschätzter Gast im Refuge. »Elefanten sind Wesen mit starker Magie, sie haben ihren Ursprung in der Götterwelt. Als das Universum erschaffen wurde, sind ihre Vorfahren von vier Göttern aus den Knospen eines goldenen Lotus erschaffen worden. Hast du schon mal Lotus gesehen, Ricarda?«
Ricarda nickte und blickte Chanida an, versuchte in ihren Augen zu lesen. Und sah die eiserne Entschlossenheit darin. Ja, Chanida wusste genau, was sie tat. Ricarda war ihr dankbar dafür. Warum schaffte sie es trotzdem nicht, Chanida zu vertrauen?
»Sogar heute noch beurteilen wir Elefanten danach, welcher der vier Götter seinen Vorfahren geformt hat und welcher Kaste der Elefant dadurch angehört«,erzählte Chanida weiter. »Zum Beispiel wurde der von Phra Phrom verwandelte Lotus zu der edelsten Kaste von Elefanten; wer ein solches Tier besitzt, dem sind Weisheit und Langlebigkeit sicher.«
»Und wie unterscheidet man die Kasten?«, hakte Sofia nach.
»Man sieht das von außen, an ihrer Größe, der Form und Farbe ihres Körpers, an ihrer Haut und ihren Stoßzähnen«, erklärte Chanida. »Mae Suchada gehört zur höchsten Kaste, Ruang ist sehr stolz auf sie. Ihre Haut hat die Farbe von regenschweren Wolken und schimmert wie fließendes Wasser! Ihre Schwanzquaste hat die Form eines Bodhi -Blattes und ihr Rücken hat die edle Form eines Bogens.«
»Und Khanom ist Krieger, einer aus der Kaste, die Phra Issuan hat geschaffen«, mischte sich Kaeo nicht minder stolz ein. Sieh an, wenn es um seinen Elefanten ging, wurde er plötzlich doch wieder gesprächig. Vermutlich half es auch, dass Ruang sein Frühstück beendet hatte und nach draußen gegangen war. »Außerdem hat Khanom besondere Macht, weil er ein ekathant ist, ein Elefant mit nur einem Stoßzahn. Wie der Elefant in Legende, der eine Kraft von tausend Männern hatte.«
Wie schön, dass sie von einem Elefanten mit ganz besonderen Kräften einen Baum hochgejagt worden war. Im Moment interessierte Ricarda allerdings etwas anderes viel mehr. »Können Elefanten auch die Diener von Göttern sein? Sieht man deswegen so oftBilder von ihnen in Tempeln?« Im gleichen Moment, in dem sie es aussprach, kam ihr die Frage auch schon lächerlich vor. Laona war ein ganz normales Tier und hatte nichts Übernatürliches an sich. Aber irgendwie kam es Ricarda in Thailand vor, als sei hier alles möglich, hier waren Götter und Geister so eng mit dem Leben der Menschen verwoben. Vielleicht auch mit dem Leben der Elefanten.
»Ja, ja, Elefanten haben viel mit Göttern zu tun.« Chanida nickte. »Aber die Statuen haben eine andere Bedeutung. Die sind meistens Abbilder der weißen Elefanten, die
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