Der Elefanten-Tempel
absichtlichen! Damit war der Elektrozaun außer Gefecht. Auch der schwere Innenriegel des Holztors war für den Elefanten kein Problem, nach ein paar Minuten hatte er ihn offen.
Ricarda wusste selbst nicht, warum sie jetzt nicht laut nach Verstärkung schrie, Ruang und seine ganze Familie weckte, die kaum hundert Meter entfernt im Haupthaus schliefen. Sie schaute einfach nur zu und ging dem Elefanten nach, der lautlos, fast geisterhaft durch das offene Haupttor schritt.
Ricarda zögerte, ließ die Hand kurz über die rauen Holzbalken des Tors gleiten. Was tun? Wieder zurück ins Bett? Nein. Sie war neugierig geworden, wollte wissen, wohin dieser Elefant unterwegs war. Und wer es war. Aber dafür musste sie näher herankommen, und das wagte sie nach der Sache mit Khanom nicht.
Mit raschen, raumgreifenden Schritten wanderte der Elefant neben der Straße entlang und Ricarda ging einfach hinter ihm her. Es war ein komisches Gefühl, jetzt draußen zu sein, sie fühlte sich verletzlicher außerhalb der kleinen Welt des Refuge. Auch wohin sie überhaupt gingen, konnte Ricarda nicht sicher sagen. Lag in dieser Richtung Lampang?
Dicht und regenschwer neigten sich von beiden Seiten die Bäume über die Straße. Gut, dass der Mond noch so groß am Himmel stand, denn Straßenlaternen gab es hier keine, ebenso wenig wie reflektierende Pfosten am Straßenrand. Die Straße war ein geisterhaftes, glattes Band im Halbdunkel. Ricarda hoffte, dass kein Auto vorbeiraste, sie übersah und umnietete. Sicherheitshalber ging sie so weit außen wie nur möglich, das tat der Elefant ebenfalls.
Ihre Sandalen machten ein reibendes Geräuschauf dem Asphalt, das konnte der Elefant sicher hören. Ricarda ahnte, dass er seine Verfolgerin längst bemerkt hatte. Sie hatte ja erlebt, wie gut die Sinne der grauen Riesen waren, sie verließen sich viel stärker auf ihren Geruchssinn und ihr Gehör als auf ihre nicht besonders scharfen Augen. Doch ihr riesiger, stummer Führer hatte sich noch kein einziges Mal umgewandt, anscheinend war es ihm egal, dass Ricarda da war. Solange sie nicht versuchte ihn aufzuhalten.
Seltsam, Angst hatte Ricarda keine. Vielleicht weil ihr alles so unwirklich vorkam. Sie war im Nirgendwo. Außerhalb der Zeit. Als einziger Mensch in einer Welt, die Geistern und Göttern gehörte. In der Elefanten noch die mächtigen Herren der Wälder waren, niemandem untertan.
Eigentlich war es ihr egal, wie lange sie gingen. Es fühlte sich gut an, hier zu sein. Wieso war sie noch nicht müde? War es doch nur ein Traum? Nein, kurz darauf rutschte ein kleiner Stein in Ricardas Sandalen, sie musste das pikende Ding hinausschütteln. Es holte sie wieder in die Wirklichkeit zurück, und seltsamerweise brachte es ein nagendes, schlechtes Gefühl mit sich. Warum nur hatte sie nicht Alarm geschlagen? Sie konnte diesen Elefanten doch nicht einfach hier herumwandern lassen, wo er womöglich in Schwierigkeiten geriet – sie würde irgendwie versuchen müssen ihn zurückzubringen. Aber das würde nicht gehen, solange er sein Ziel verfolgte.
Und dann wurde der Elefant langsamer. Ricarda blickte hoch, sah, dass der Wald in gepflegten Rasen mit einigen Zierbäumchen überging, und staunte. Dort erhoben sich Mauern, so wuchtig, dass sogar der Elefant vor ihnen klein wirkte.
Welche Art Gebäude konnte das sein? Ricarda erkannte eine riesige Treppe aus hellem Stein, die von mythischen Wächtern beschützt wurde – was für Wesen waren das? Hunde, Drachen, Nagas ? Streng und reglos erwiderten sie Ricardas Blick.
Anscheinend waren sie vor einem Tempel angekommen, einem Tempel weitab der Stadt, mitten im Wald. Hinter einer wuchtigen Ziegelmauer sah Ricarda einen runden goldenen Turm – einen chedi – , und ein dreifach ineinandergeschachteltes Tempeldach mit seinen typischen gebogenen Spitzen am First, die Ricarda an Klauen erinnerten. An der Seite des Geländes reckte ein riesiger Baum die Äste in alle Richtungen. Da, drei kleine Schatten, standen da Menschen? Nein, es waren Zierpalmen. Menschenleer und verlassen lag der Tempel da. Ricarda hatte keine Ahnung, wie der Tempel hieß; sie sah zwar ein großes Schild, doch es war viel zu dunkel, um die Aufschrift lesen zu können.
Der Elefant stand bewegungslos auf der breiten Straße vor dem Tempel, sein Rüssel hing herunter. Er hatte sein Ziel erreicht. Mehrere Minuten lang verharrte das gewaltige Tier, so als erweise es dem Tempel Ehre. Doch es versuchte nicht die Treppehinaufzusteigen oder
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