Der Elefanten-Tempel
ihm, über zwei Ozeane hinweg, dachte Ricarda mit einem Anflug von Neid.
»So richtig gefunkt hat es aber erst im Zirkuscamp«, fuhr Sofia fort. »Da waren wir ständig zusammen und fühlten uns so wohl miteinander. Wir waren wie zwei Hälften, bei denen es klick machte und die auf einmalverbunden waren. Er ist der tollste Mensch, den ich kenne. Ach, verdammt, ich vermisse ihn.« Jetzt schimmerten auch ihre Augen feucht.
Ricarda dachte an Nuan. Daran, was für ein besonderer Mensch er war und wie gern sie mehr über ihn herausgefunden hätte. Jetzt würde sie nie erfahren, wieso er so gut Englisch sprach, wie er aufgewachsen war, wie er wirklich dachte und fühlte. Vielleicht war er in Wirklichkeit ja ganz schrecklich, ein Macho der übelsten Art. Aber hätte sie das nicht spüren müssen?
Auf einmal hatte Ricarda das Bedürfnis, in ihrer Legende zu lesen, vielleicht noch ein Stück weiterzuschreiben. Doch Sofia würde todsicher wissen wollen, was sie da in ihr Buch kritzelte. Vielleicht war es an der Zeit, sie einzuweihen.
Ricarda entschied sich. »Ich habe da etwas geschrieben«, sagte sie. »Etwas, zu dem Nuan mich inspiriert hat … willst du es hören?«
»Ein Gedicht?«
»Nein, eine Geschichte. So was wie eine Legende.«
Ricarda holte das Notizbuch hervor, begann mit leiser Stimme zu lesen. Erst den Anfang, dann die neueste Passage. Und ihre Worte reihten sich aneinander zu einer Melodie, verfingen sich in der Rinde des Mangobaums, schwebten aus dem Fenster davon in die samtige Dunkelheit.
Schon bald merkten die Soldaten, dass sie den Sohn des Fürsten selbst in ihrer Gewalt hatten, und nahmen ihnmit in den Palast von Surin, den König Arakhar bereits erobert hatte. Nuans Vater und all seine Vertrauten waren tot, und auch Nuan sollte hingerichtet werden, damit kein anderer mehr Anspruch auf den Thron Surins erheben konnte.
Davon ahnte Ricarda nichts. König Arakhar hatte sie als Braut für einen seiner treuen Verbündeten ausgewählt. Traurig wartete sie in ihren neuen Räumen darauf, was nun mit ihr geschehen würde, und sorgte sich um ihren Prinzen des Mondes. Doch sie ahnte nicht, wer Nuan wirklich war und was ihm bevorstand. Sie erfuhr es erst, als sie durch die Gärten wanderte und dabei auf Devi traf, die an einem riesigen Feigenbaum angekettet war.
»Ich weiß, nach wem du dich sehnst«, sagte Devi. »Nuan, der Sohn des Fürsten, ist dein Prinz des Mondes. Er ist in ernster Gefahr. Willst du ihm helfen?«
Ricarda war überrascht, dass der Elefant zu ihr sprach, und erschrocken darüber, wer Nuan wirklich war. Doch sie überwand ihre Verwunderung schnell. »Ja, natürlich will ich ihm helfen. Von ganzem Herzen.«
»Er soll bei Sonnenaufgang hingerichtet werden. Drei von Arakhars Dämonen bewachen ihn. Doch wenn ein Mädchen zu ihnen kommt und ihnen etwas vorspielt, werden sie besänftigt und ich kann sie vielleicht besiegen, solange sie abgelenkt sind. Aber überlege dir gut, ob du es wirklich tun willst, denn du musst dein Leben riskieren. Und gelingen kann der Plan nur, wenn du deine Furcht beherrschst.«
»Ich will es tun«, entschied sich Ricarda und versuchtevergeblich Devis Kette zu lösen. »Kannst du dich denn befreien?«
»Ja. Heute Nacht werde ich meine Kette zerreißen. Der Schmerz vergeht wieder.«
In dieser Nacht verbarg Ricarda die Flöte in ihrem Gewand und kletterte aus dem Fenster. Sie schlich zu dem Kerker, in dem Nuan gefangen gehalten wurde. Die drei Dämonen sahen scheußlich aus, wie riesige Schlangen mit Pferdemähnen und Schweineschnauzen, aus denen dolchartige Zähne ragten. Am liebsten wäre Ricarda geflohen, doch sie dachte an Nuan, holte ihre Flöte hervor und begann zu spielen. Es schien den Dämonen zu gefallen, entspannt lagen sie Ricarda zu Füßen und schnurrten vor Wohlbehagen.
»Sie gefällt mir, deine Legende«, sagte Sofia leise. »Weißt du schon, wie sie ausgehen wird?«
Ricarda dachte darüber nach. Ein Happy End? Wieso nicht, vielleicht war das ein Trost, ein trotziger Ausgleich dafür, wie es in Wirklichkeit zu Ende gegangen war. Doch zugleich spürte Ricarda, dass die Geschichte das nicht dulden würde. »Ich fürchte, einer der beiden Liebenden wird sterben.«
Sofia schauderte. »Das willst du tun? Bitte, mach das nicht. Bringt bestimmt Unglück.«
Doch als Sofia längst schlief, holte Ricarda das Buch noch einmal hervor, setzte den Stift an und ließ ihn über die Seiten gleiten. Schrieb den Schluss, den die Geschichte forderte.
Nuan
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