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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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Meer schwerer zu erkennen war als auf dem Land. In Endlosschleifen ging Samuel das alles durch den Kopf. Bis ohne Vorwarnung la girafe ihren langen gefleckten Hals zu ihm herunterbeugte und ihn aufmunternd anstupste.
    Die »Good Intent« maß auf dem oberen Deck vom Heck bis zum Bug nur 75 Fuß und in der Breite gerade mal 22 Fuß und 3 Zoll. Trotzdem suchte er ziemlich lange nach ihr. Denn sie stand nicht wie sonst an der Reling. Erst als die Wolken für ein paar Minuten den Mond freigaben und kalte silberne Lichtstreifen über die Planken wanderten, entdeckte er sie verborgen hinter dem Ankerspill. Sie saß auf einem Stoß aufgerollter Taue.
    »Übermorgen haben wir Vollmond.«
    »Ach ja.«
    »In einer Woche, hat Mr. Abercrombie heute Nachmittag gesagt, sollten wir es geschafft haben.«
    »Ach ja.«
    Erst jetzt, als auch er nicht mehr wusste, was er noch hätte sagen können, bemerkte Samuel Hochstettler, dass er seinen Hut unten vergessen hatte. Wolken schoben sich fleckig vor den Mond, dem tatsächlich nur noch eine winzige Tranche zur Vollendung fehlte, und Charlotte tauchte wieder in die Schwärze ein. Die grüne Lampe, die auf dieser Seite, der Steuerbordseite, hing, war zu weit weg, als dass sie Licht hätte spenden können. Deshalb war Samuel sich nicht sicher. Hingen ihr die Haare offen über die Schultern und den Rücken? Oder hatte sie sie wie manchmal in letzter Zeit in eine Art Turban eingewickelt, um sich vor den Beutezügen des Ungeziefers zu schützen? Er räusperte sich.
    »Haben Sie wirklich angenommen, dass ich nicht weiß, dass die Erde eine Kugel ist?«
    In seinem Ton schwang etwas mit, das Charlotte aufhorchen ließ. Allerdings lispelte die warme Nachtluft zwischen den Segeln, so dass sie sich nicht ganz sicher war, ob sie ihn richtig verstanden hatte.
    »Hm, na ja, sagen wir mal so, es hätte mich nicht allzu sehr überrascht, wenn Sie geglaubt hätten, wir könnten irgendwann mal am Rand der Scheibe herunterfallen. Andererseits …«
    »Ja?«
    »… haben Sie Ihre Äcker anders als die anderen Bauern bestellt. Mein Vater hat mal gesagt, Sie seien auf Ihre Art so etwas wie ein Revolutionär.«
    »Ach ja.«
    »Überhaupt …«
    »Ja?«
    »… frage ich mich, wie es mit meinem Vater weitergehen soll, da Sie jetzt nicht mehr den Hof bewirtschaften.«
    »Mit Gottes Hilfe …«
    »Ach ja.«
    »Ich habe ihm Noah Gabler als neuen Pächter empfohlen, der wird seine Sache sehr gut machen und Ihrem Vater auch gleich eine neue Kutsche bauen. Übrigens habe ich heute Morgen wieder Delphine springen gesehen.«
    Das Deck schien erneut silberhell auf, und Samuel konnte erkennen, dass sie ihr Haar offen trug. Er nützte das Licht, das im nächsten Moment vielleicht schon wieder durch ein Wolkenband gelöscht würde, und setzte sich neben sie auf die aufgerollten Tampen. Weil die Hanfseile, die allesamt zur Takelage gehörten, während des Sturms nass geworden waren und nur langsam trockneten, fühlten sie sich härter als sonst an. Die Salzkruste schuppte unter Samuels Händen. Als die Backbordwache abgelöst wurde, wehten ein paar Worte, dunkel und müde, zu ihnen herüber. Ein Zittern lief mit den Schritten der Seeleute über die Planken. Doch keinesfalls ein Donnergrollen. Ein Blick nach oben genügte Charlotte, um sich zu überzeugen. Der Himmel saß sanft und tadellos wie die schwarze Haube einer Täuferin auf dem Meer. Nirgendwo auch nur das geringste Anzeichen für ein Gewitter.
    Trotzdem spürte Charlotte jäh und scharf die Elektrizität. Ein Netz fiel über sie wie damals, als sie mit einem Drachen an einem Silberdraht unterwegs gewesen war, den Blitz in der Atmosphäre aufgespürt, die blauen Funken zum Tanzen gebracht hatte. Wieder waren die Spinnweben überall. Sie knisterten und kribbelten auf ihrem Mund, ihrem Hals, krochen ihr unter das Kleid und die Strümpfe, gleichzeitig die Beine und die Arme hoch. Von woher entlud sich das Fluidum? Ihre Elektrisiermaschine stand seit Wochen verpackt und untätig im Zwischendeck, einen Krampfrochen hielt sie auch nicht in den Händen.
    Komischerweise ließ die Elektrisierung nicht nach. Im Gegenteil, der Strom floss mit kleinen pulsierenden Stößen von ihrer Kopfhaut bis zu den Zehen ohne Unterlass durch sie hindurch. Besaß sie unter Umständen ein solch geheimes Organ wie der Krampfrochen, auch wenn sie es bei ihm nicht hatte identifizieren können, das selbständig Elektrizität erzeugte? Oder war sie nur ein guter Leiter, so wie Kupfer oder

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