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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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Silberdraht? Wo aber kam dann das Fluidum her?
    Da fiel Charlotte die Leidener Flasche ein. Der holländische Physiker Pieter van Musschenbroek hatte durch Zufall in seinem Labor entdeckt, dass man einmal erzeugte elektrische Kraft speichern und bei Bedarf abrufen konnte. Er konstruierte eine entsprechende Flasche, in der sich Elektrizität aufbewahren ließ. Die Spannung auf Charlottes Haut, selbst an ihren Haarwurzeln nahm zu. Deshalb hatte sie größte Schwierigkeiten sich den Namen desjenigen ins Gedächtnis zu rufen, der Musschenbroek diese Erfindung streitig machen wollte. Ach ja, dann gab es noch die beiden Londoner Ärzte, die vor kurzem darauf verzichtet hatten, in die Flasche überhaupt Alkohol oder Wasser zu füllen. Die Luft zwischen den Glaswänden, die innen wie außen mit Stanniol verkleidet waren, genügte. Sie hatte einiges darüber gelesen. Vage erinnerte sich Charlotte jetzt auch wieder an eine Abbildung der Leidener Flasche in einer englischen Zeitung.
    Die Segel der »Good Intent« blähten sich und knatterten sanft. Charlotte kam es vor, als ob sie wirres Zeug brabbelten, vielleicht sogar freches. Wie auf Befehl drehte sie deshalb ihren Kopf zur Seite. Zu der Seite, wo Samuel Hochstettler schon vor einer Ewigkeit, möglicherweise aber erst vor ein paar Minuten, Platz genommen hatte.
    Das Weiß in seinen Augen blitzte im Schein des Mondes. Und seine Iris. Leuchtete sie nicht bernsteinfarben wie die des Fuchses, der ihr an jenem Gewittermorgen vor langer Zeit über den Weg gelaufen war? Im selben Winkel sah Charlotte, dass sein Daumennagel unentwegt an den Tauen schabte. Seine Barthaare hingegen standen still.
    Mit einem Mal erinnerte sie sich und verstand alles. Das Prinzip der Leidener Flasche im Allgemeinen und das Wirken der Elektrizität im Moment. Er und sie waren die Elektroden, die in geringem Abstand, mit so wenig Luft dazwischen wie noch nie zuvor, unter Strom standen. Denn wenn sie ihn jetzt so anschaute, dann wusste sie, dass es ihm nicht anders erging als ihr. Dass auch er die fortwährend zuckenden Spinnweben auf seiner Haut spürte. Er und sie ergaben zusammen einen Kondensator und erzeugten Elektrizität.
    Sollte sie aufstehen, weggehen, die Spannung, die kaum noch auszuhalten war, unterbrechen und sich im Zwischendeck verkriechen? Auch wenn sie es gewollt hätte, hätte sie gar nicht gewusst wie. Außerdem wollte sie nicht. Das wäre unwissenschaftlich, denn das Experiment war in vollem Gange. Noch dazu aufregender und verheißungsvoller als alle Versuche, die sie bislang durchgeführt hatte. Samuel schien allerdings etwas dabei zu schmerzen, denn aus seinem Mund drang ein leises Stöhnen. Als nächstes griffen seine Hände in ihr Haar. Sie wühlten, kneteten wütend, wurden sanfter und ruhiger und fächerten schließlich mit gespreizten Fingern die dunklen Strähnen auf. Dadurch ließ für beide der Druck etwas nach. Etwas von dem Strom, so mutmaßte Charlotte, musste abgeflossen sein. Jedenfalls fühlte sie sich überall weicher werden, so als ob ihre Haut an Oberflächenspannung verlor und sich eindrücken ließ wie ein überreifer Pfirsich.
    Ihre Haare rochen salzig, fischgründelnd, doch auch süß nach Rum. Samuels Nase suchte merkwürdige verborgene Pfade ab, die ihn zu neuen Gerüchen führten, die er jedoch mit nichts, was es auf der Erde oder im Wasser gab, vergleichen konnte. Dabei berührte er Charlottes Schlüsselbein, ihren Nacken. Was bei ihr Schmerzen des Fast-nicht-mehr-aushalten-Könnens erzeugte und einen kurzen, nicht sehr leisen Schrei erzwang.
    Wer aber hatte das Experiment initiiert? Wo war die Quelle, von der die Elektrizität ausging, die in die aus ihren beiden Körpern bestehende Leidener Flasche gepumpt worden war und mit deren Wirkung sie jetzt zurechtkommen mussten? Diese Fragen stiegen wie Blasen in Charlottes Gehirn auf, während sie mit ihrem rechten Zeigefinger langsam und andächtig über Samuels Wangen strich. Eine Geste, die Partien ihres eigenen Körpers, die einen viel schnelleren, heftigeren Durchfluss der Elektrizität wünschten, als böswillig bremsenden Widerstand empfanden. Seine Finger rieben ihre Haare. Konnte dies neues Fluidum erzeugen? Aber das würde all dem widersprechen, was sie über Leiter und Isolatoren und Elektrizität insgesamt gelesen und selbst ausprobiert hatte.
    Sein Blick ließ die Blasen in ihrem Kopf platzen, und Charlotte wunderte sich über nichts mehr. Auch nicht darüber, dass ihr und sein Mund plötzlich nur

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