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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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wieder so zahm, dass sie allmählich vom Schnarchen, Furzen oder Flüstern aus der nächsten Schlafstätte übertönt wurden. Auch Charlotte brauchte geraume Zeit, um sich bewusst zu werden, dass die »Good Intent« nicht leckgeschlagen, gekentert und sie nicht ertrunken war. Noch länger brauchte sie, um zu bemerken, dass ihre Beine und Arme merkwürdig verdreht dalagen. Sie hatte Prellungen, blaue Flecken, und aus einer Platzwunde über der rechten Augenbraue lief Blut. Aber Charlotte spürte noch keine Schmerzen. Dafür waren die Balken über ihr wieder die Balken, und der Boden, auf dem sie lag, bestand zwar nur aus schmutzigem, feuchtem Holz, aber er war immerhin wieder der Boden.
    Als erstes stand Sarah auf, schaute nach ihrem Vater, verband notdürftig Charlottes Stirn und zog ihr dann die über und über mit Erbrochenem verklebten Kleider aus und neue an. Danach schliefen sie alle, immer noch zutiefst erschöpft, wieder ein.
    Wie sich bald herausstellte, war während des Sturms einer der Wasserbehälter beschädigt worden. Das erzwang eine grausame Rationierung. Gleichzeitig schmeckte das, was sie mit Schöpfkellen abgefüllt bekamen, immer fauliger. Das Wasser verdickte sich und nahm die Farbe von Schlick an. Man konnte es nur mit geschlossenen Augen und ohne zu atmen trinken, denn in ihm trieben auch schlaffe Maden. Obwohl Charlotte bereit war, eine Münze nach der andern aus ihren Säumen und Miedern zu trennen und horrende Preise zu zahlen, gelang es ihr immer seltener, noch etwas gebratenes Fleisch oder Kartoffeln zusätzlich zu der winzigen Nahrungsration zu ergattern, die der Kapitän für jeden Passagier angeordnet hatte. Solange noch Rum zu kaufen war, tranken Charlotte und die Hochstettlers mehr Rum als Wasser.
    Weil die fünf Schweine in dem Verschlag längst geschlachtet und gegessen waren, gab es nur noch das gesalzene Fleisch, das in Cowes an Bord gehievt worden war. Grau und schwammig wurde es vor dem Verzehr eingeweicht. Es hatte den Vorteil, dass es schwer im Magen lag und für eine Weile die Illusion verschaffte, satt zu sein. Allerdings wurde man davon noch durstiger. Nur dreimal wöchentlich stand den Passagieren etwas Warmes zu, wozu auch getrocknete, kurz aufgebrühte Erbsen zählten, hart und geschmacklos wie Hornknöpfe. Wer klug war, kaute langsam auf seinem Stück Zwieback oder Brot und übersah die winzigen roten Würmer, die heraus- und hineinkrochen.
    Charlotte war sich nicht mehr ganz sicher, ob sie überhaupt noch schwanger war. Falls doch, so zweifelte sie, ob die kleine Maschine in ihrem Bauch das widerliche Zeug überlebte. Selbst das Frettchengesicht und der Dicke kamen, wie sie ihr schamvoll versicherten, an keine Extrarationen mehr heran. Deshalb widersprach Charlotte nicht, als Sarah ihr jedes Mal etwas mehr von dem Sauerkraut in die Schüssel füllte als sich selbst oder ihrem Vater.
    Der Hunger und der Durst veränderten die geduldigen und demütigen Täufer. Egal ob sie aus der Pfalz, der Schweiz oder dem Elsass stammten. Auf der Seite liegend, durch seine Armbeuge hindurch beobachtete Samuel, wie ein Mann, Elias Sattler, der aus Landau stammte und die Heilige Schrift nahezu auswendig konnte, von einer Sekunde zur anderen seinen Vetter würgte. Manche schlugen wie tobsüchtige Trunkenbolde ihre Kinder, klauten ihrem Bettnachbarn Brotkrusten und Geld oder gönnten ihrer Frau nicht den letzten Schluck, der vom Biervorrat übrig geblieben war. Das gab Samuel viel Stoff zum Nachdenken während der langen, trägen Stunden. Er grübelte über die Natur der Menschen im Allgemeinen, die der frommen sowie der nicht frommen und insbesondere über das rätselhafte Wesen einer bestimmten Person. Dabei gewöhnte er sich an, Tag und Nacht auf der Hut zu sein.
    Deshalb zertraten ihre Schritte, so behutsam und leise sie auch waren, sofort seinen flachen Schlaf. Dass sie nachts an Deck ging, war ihm neu. Samuel stützte sich auf die Ellbogen, blickte durch die Dunkelheit zu dem Vorhang, hinter dem seine Tochter jetzt alleine mit seinem kleinen Sohn schlief. Alles war ruhig. Er schloss wieder die Augen, die brannten. Er fühlte sich müde und gleichzeitig hellwach. Nervös noch dazu. Sarah, Jakob, die Kiste mit den Werkzeugen und einem Säckchen besten Kleesamen, dann das Geld, das reichen musste, um in Pennsylvania Land zu kaufen, die Sauerkrauttöpfe, die Schiffskiste, die vielen Dinge, die dem Fräulein von Geispitzheim gehörten, diese Nacht, die Welt, der schmale Weg, der auf dem

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