Der elektrische Kuss - Roman
noch eine knappe Handbreite auseinander waren und sich gleichzeitig öffneten. Berührungslose Berührung!
Kein kobaltblauer Funke spannte sich wie damals bei dem Experiment im großen Kirchheimer Saal zwischen den Lippen. Trotzdem war sie die Venus electrificata. Ganz aus sich heraus. Ohne eine Maschine, die ein sächsischer Graf mit jämmerlichen Storchenbeinen in Betrieb setzte. Sie schaffte es, dass sich Samuels Spannung bei ihr entlud und gleichzeitig wieder auflud. Aber bei diesem Versuch war ja auch nicht der alte, wachshäutige Fürst ihr Gegenüber, sondern ein richtiger Mann.
Beide spürten deutlich den scharfen Schlag, als sie sich küssten. Und danach noch eine ganze Kette kleinerer Stromschläge. Obwohl Samuel noch nie etwas mit Knöpfen zu tun gehabt, außer dass er sie von Ferne misstrauisch beäugt hatte, öffnete er die, die er an Charlottes Kleidern fand, überraschend schnell und geschickt. Umgekehrt hatte sie mehr Schwierigkeiten mit seinen Haken und Ösen. Seltsam war auch, dass sie schwieg und er sprach. In einem rauchigen, tiefkehligen Singsang, den Charlotte zum ersten Mal gehört hatte, als er ihr krankes Pferd behandelt hatte. Darin schwammen Worte, für ihr Ohr unerhörte Worte, für die Manteuffel zu anämisch gewesen war. Aber auch Felix hatte ihr nie Vergleichbares zugeraunt, weil solche Worte nicht in philosophischen Büchern vorkamen oder er nicht den Mut dazu gehabt hatte. Die Haare auf Samuels Brust lockten sich schwarzgrau und kratzig. Charlotte versenkte ihr Gesicht hinein und lauschte.
In einem neuen mondhellen Moment sah sie die Stelle aufscheinen, an der die helle Beuge seiner Leiste in den Oberschenkel überging. Das Schönste überhaupt, was sie in ihrem bisherigen Leben gesehen hatte und das ihr Herz beinahe stillstehen ließ. Anmaßend schön, triumphierend schön spreizten sich seine Schenkel, bespickt mit kurzen schwarzen Haaren, muskelbepackt. Sie hätte gerne noch viel länger geschaut. Doch der Mond und Samuel konnten nicht mehr länger warten.
Als es vorüber war, wiegte sie seinen Kopf in ihrem Schoss, strich seine langen Locken aus der Stirn und hinter die Ohren zurück und prägte sich trotz der Nachtschwärze sein Gesicht ein.
Während alle anderen Auswanderer langsam Hoffnung schöpften, dass ihr Elend bald ein Ende haben und das gelobte Land in wenigen Tagen auftauchen würde, und deshalb ihre Ausschläge, Durchfälle, eiternden Geschwüre, ausgefallenen Zähne, die Auszehrung ihrer Kinder und den Tod ihrer Lieben schon wieder mit mehr Gehorsam und Demut ertrugen, wurden Samuel Hochstettler und Charlotte von Geispitzheim krank.
Sie, die alle bisherigen Härten der Überfahrt gut überstanden hatten, drückte ein unspezifisches Fieber nieder. Von frühmorgens bis zum Einbruch der Dunkelheit. Denn das Merkwürdige an der Krankheit war, dass sie nur tagsüber auftrat. Mit staubtrockenem Mund, knotenartigen Schmerzen im Magen und einem Ziehen in den Gliedmaßen saßen, lagen oder kauerten die Betroffenen auf ihrem Platz. Samuel Hochstettler litt vor allem unter Herzrasen. Zwischendurch wurde es ihm auch ganz unvermutet schwarz vor Augen. Ebbte die Schummrigkeit ab, zählte und sortierte er die Löcher, die die Holzwürmer in die Bohlen über ihm gebohrt hatten. Mit einem der Astlöcher, das wie eine der großen Walnüsse geformt war, die bald von dem Baum beim Muckentalerhof fallen würden, versuchte er ins Gespräch zu kommen. Denn seit Uri tot war, hatte er niemanden mehr, mit dem er über Mistgruben, Kleeäcker oder andere Vorhaben hätte sprechen können. Aber das Astloch blieb taub und stumm. So wie Samuels Gehirn. Stattdessen überspülten ihn Sehnsüchte. Wieder begann sein Herzschlag zu galoppieren, während die Zeit nur schlich.
Um kein Mitleid zu erwecken und vor allem, um nicht zu unpassender Zeit von ihm gesehen zu werden, verkroch sich Charlotte ganz hinter der blauen Decke, bohrte ihre Fäuste mal in die Augenhöhlen, mal zwischen die Beine, wippte leicht hin und her, um sich wie ein Kind in den Schlaf zu wiegen. Vergeblich. Denn die Furcht davor, dass sich der elektrische Versuch nicht wiederholen ließ, hielt sie wach. Vielleicht stimmte der Wind, die Meeresströmung, die Stellung des Mondes oder sonst etwas nicht? Vielleicht funktionierte auch ihre leitende Beschichtung nicht mehr? Denn sie musste ja eine haben, weil sonst der Kondensator überhaupt nicht arbeiten konnte. Oder wenn Samuel ihr nicht mehr gefiel? Was, wenn er seine eigene
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