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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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Beschichtung tagsüber abkratzte und darunter niemand anderer als ein engstirniger Bibelwiederkäuer steckte?
    In der zweiten Nacht gefiel er ihr sogar noch besser als in der ersten. Er schob seine Hände, die braun gebrannten, langsam, nicht zu fest und auch nicht zu zart, über ihren Bauch. Unter seinen Handflächen fühlte sie, dass ihr Bauch tatsächlich gewachsen war und sich nach vorne wölbte. Auch ihre Achselhöhlen lernte er kennen. In der einen, aber nur in dieser einen, spürte er den Duft von Sommer-Rambour-Äpfeln auf. Nach all den Jahren. Sie schmeckten unvergleichlich. So gestärkt nahm er sie mit einer Freude und Schamlosigkeit, die ihn zum ersten aller Männer machte. Adam, der Erdgeformte, dem Gott ungetrübtes Vergnügen an der Lust gönnte. Samuel sah die Welt, noch bevor sie die Welt war. Himmel öffneten sich, und sie starben zusammen mehrere kleine Tode. Sodass sie sich zumindest in dieser Nacht vor nichts mehr zu fürchten brauchten.
    Während einer der unsäglich langen Nachmittagsstunden, als Samuel zuerst genüsslich, dann immer mehr zweifelnd und schließlich verzweifelt darüber sinnierte, was Charlotte wohl an ihm mögen, vielleicht sogar lieben könnte, bekam er eine Antwort aus seinem Bart. In dem rehbraunen Dickicht juckte es. Lange brauchte er nicht, um herauszufinden warum. Seine Kopfhaut hatten die Läuse nur deshalb nicht überfallen, weil er sie ihnen fast immer mit seinem Hut versperrte. Hatte Charlotte das Ungeziefer schon bemerkt? Sich davor geekelt? Samuel schreckte wie vom Blitz getroffen hoch und wühlte in seiner Kiste nach dem Rasierzeug.
    Ihr sollt euer Haar am Haupt nicht rundumher abschneiden noch euren Bart gar abscheren. Das war eines der Gebote, die der Herr Moses für das Volk mitgegeben hatte. Daran hatte sich Samuel gehalten, seitdem er siebzehn oder achtzehn war. Aber Läuse waren wie Heuschrecken eine teuflische Plage, und der Bart würde mit Gottes Hilfe bald wieder nachwachsen. Daran gewöhnt, sich den Haarwuchs an der Oberlippe, den Wangen und Schläfen quasi blind und nur nach Gefühl mit dem Messer zu rasieren, schabte sich Samuel Hochstettler jetzt ruck zuck auch das Kinn glatt. Hätte er danach in einen Spiegel geschaut, was er aber als eitel und lasterhaft ablehnte, dann hätte er das Gesicht eines sehr verliebten Mannes gesehen.
    In der Nacht, die diesem Nachmittag folgte, zogen sich die beiden zum einzigen Mal in ihrem Versteck ganz nackt aus. Danach schälten Charlottes Hände mit vielen Liebkosungen alle seine Häute ab. Die einstudierten, auswendig gelernten Hornhäute, seine durch Meidung entstandenen Schamhäute und auch diejenigen, die ihm aus tiefster Überzeugung gewachsen waren. Bis tatsächlich Samuel zum Vorschein kam. Sie staunte, und er staunte auch. Sie wiederum erkannte sich so deutlich in seinen Blicken, dass etwaige Zweifel oder gar Fragen ein Hohn seiner Liebe gewesen wären. Während Samuel die kühne Linie, die von ihren Nackenwirbeln zum Steißbein führte, so langsam nachzog, dass es ihn wie sie gleichermaßen lustvoll quälte, verstand er endlich auch, warum Gott die französischen Täufer zu ihm auf den Heuboden mit einem Buch geschickt hatte, in dem la girafe mit ihrem schönen langen Hals abgebildet war. Es gab offensichtlich nichts, sagte er sich, das in der göttlichen Herrlichkeit keinen Sinn ergab. So kam es, dass Samuel den Bund mit seinem Gott noch fester schloss und besser denn je gegen Anfechtungen gewappnet war. Charlotte hingegen ging zum ersten Mal die Frage durch den Sinn, ob Samuel und sie etwas mit den zwei von Dufay beschriebenen, unterschiedlich geladenen Elektrizitäten zu tun haben könnten, die sich anzogen.
    Zu diesem Zeitpunkt war Julien Offray de La Mettrie schon acht Monate tot. Gallenversagen, hieß es, nachdem er sich an einer Fleischpastete überfressen hatte. Dabei galt Monsieur als kerngesund. Vielleicht war die Pastete auch vergiftet. Gerüchte machten die Runde. Hatte nicht La Mettrie selbst öfter den Verdacht geäußert, irgendwann der »Wut der Frommen zum Opfer zu fallen«? Andererseits war es fast logisch, dass mit der Zeit und peu à peu seine Körpersäfte restlos übersäuert waren, weil er in Potsdam schließlich auch noch die Rolle des Hofnarren verloren hatte und nur noch Schießbudenfigur war. Um die Toleranz des preußischen Königs nicht unnötig auf die Probe zu stellen, durfte er nicht einmal mehr selbst schreiben. Nur übersetzen. Der König gab ihm Seneca als Fleißarbeit. Wie

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