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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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einem Kanzleimitarbeiter. Das musste selbst in einem sanften Atheisten den Glauben an die Möglichkeit des Fegefeuers aufkeimen lassen. Weil aber jedes Werk, auch ein aus dem Lateinischen ins Französische übersetzte, ein Vorwort brauchte, nutzte La Mettrie seine letzte Chance und schrieb ein Vorwort: »L ’ Art de jouir«. Im Deutschen, das gab La Mettrie selbst zu, klang »Die Kunst, Wollust zu empfinden« reichlich vulgär.
    Das elektromagnetische Feld, in dem sich Charlotte und Samuel befanden, verdichtete sich zwischen ihren Beinen. Überraschenderweise entluden sich aber auch zahllose leuchtende Blitze an den Abhängen ihrer Hüften und zischten von dort in den Nabel des anderen. Ein Funkenregen nach dem anderen schlug aus der kleinen Grube ihres Halses, dort wo die Haut dünn und gut durchblutet war, und traf seine Lippen, drang tief in sein Fleisch und brannte, sodass er aufheulte. Seine gespannten Oberarme, in die Charlotte sich mit allen zehn Fingern krallte, leiteten Ströme des Verlangens durch ihre Adern, Nerven und Fasern in Richtung Zwerchfell.
    Sie feierten ein Fest, ein außergewöhnlich prächtiges Fest. Mit raffiniert ausgeklügelten Details und Überraschungen, dann auch wieder mit stürmischem Überschwang, als wären sie junge Hunde, die übereinander herfielen und sich balgten.
    La Mettrie war nicht immer klug gewesen. Er hatte sich zwischen zwei Stühle gesetzt und es sich sowohl mit Klerikern als auch Aufklärern verscherzt. Aber er war klug genug gewesen, sich rechtzeitig Inspirationen für sein Seneca-Vorwort zu besorgen. So vorausschauend hatte er eine ruhelose Elektrikerin und einen störrischen Täufer auf einen Zweimaster gesetzt und den wiederum mitten auf den Atlantik. Dann brauchte er nur noch sein Vergrößerungsglas auf die warmen Nächte zu richten und Pastete kauend abzuwarten. Bis die beiden ein Paar wurden und La Mettrie haarklein die erotische und bewusstseinsverändernde Wirkung des elektrisierenden Stroms der Liebe beschreiben konnte: »Er lässt von der Seele und ihren Sinnen nichts mehr übrig, hebt die normalen Funktionen des Körpers auf, bemächtigt sich sozusagen des ganzen Menschen … Seine Macht ist, kurz gesagt, so gewaltig, dass selbst die Vernunft, diese hochmütige Göttin, ihm untertan ist. Sie ist, wie all die anderen Sinne, als glückliche Sklavin seinen Freuden stets zu Diensten.«
    Auf jeden Fall wäre La Mettrie mit seinem Feldversuch in einer Nussschale auf hoher See sehr zufrieden gewesen. Nicht nur, dass Charlottes und Samuels schöne Maschinen wie geschmiert liefen. Auch alle anerzogenen Bremsen und störenden Ablagerungen der Gesellschaft, zu der La Mettrie neben der angeblichen Vernunft auch das Gewissen und die religiöse Zerknirschung zählte, setzte der heftige Schlag, der erfolgt war, als sie sich geküsst hatten, außer Gefecht. Ihre Rationalität und Bibelworte schwammen mit der Gischt davon. Jedenfalls solange das Experiment lief.
    »Ich vermisse deinen Bart«, sagte Charlotte erschöpft und biss schelmisch in sein glattes Kinn. Es roch eindeutig nach Karamell.
    »Wen wollte dein Vater, dass du heiratest? Einen Weinhändler aus Mannheim oder war es …?«
    »Samuel, du glaubst also doch noch, dass die Erde eine Scheibe ist!«
    »Wenn das so ist, dann kannst du doch auch mich heiraten. Dein Kind braucht …«
    »Ist das wirklich ein Antrag?«
    »Ja, ja. Also, was sagst du dazu?«
    Er wühlte in ihrem Haar, damit die Düfte zu ihm herausströmten, sie schloss die Augen. Ihre Nase drückte ihre langen schmalen Flügel an seine energisch geraden. Ja. Ja. Natürlich wollte sie das herausschreien, am liebsten so laut, dass die Schläfer unter Deck mit den Köpfen gegen die Deckenbalken knallten. Aber dann würde die Vergangenheit notgedrungen der Zukunft begegnen und der Täufer mit vielen Haken und Ösen der unruhigen Elektrikerin. Schrecklich, dass sie das alles sofort wusste und sich nicht ein wenig einlullen und belügen konnte. Trotzdem gönnte Charlotte ihm und sich noch ein paar naive Augenblicke, bevor sie antwortete:
    »Dann müssten wir aber immer auf einem Schiff leben. Und stell dir vor, irgendwann kommt wieder ein Sturm, und es kentert. Wir können doch beide nicht schwimmen.«
    »Du bist so klug, Charlotte. Aber trotzdem braucht dein Kind doch …«
    »Wie viele Nächte ist es jetzt her, dass es Vollmond war?«
    Weil sie beide auch in dieser Nacht gelehrige Schüler La Mettries waren, begann er sie hinter dem linken Ohr zu küssen.

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