Der elektrische Kuss - Roman
Nordatlantiks den weichen Waldboden erzittern, und Salzgeruch tropfte von den Ästen. Doch auch diese Sehnsucht ging vorbei, und Charlotte stapfte weiter und bog sich Zweige aus dem Gesicht. Jeder ihrer knackenden Schritte verriet sie in der Wildnis. Indianer würden sie von weitem hören oder gar ohne Mühe ihren Trampelpfad aufspüren, trotzdem empfand sie nicht die geringste Angst. Manchmal hörte sie Samuels Schüsse hallen, denn die Witwe hatte es eilig mit dem Einsalzen. Nach dem Tod ihres Mannes war sie von anderen Täufern mit frischem Fleisch versorgt worden, aber jetzt lebte wieder ein Mann auf dem Hof, und wenn der Schnee hoch lag, würden sie auf die Vorräte angewiesen sein, die er rechtzeitig erjagt hatte.
Sonderlich weit kam Charlotte bei ihren Exkursionen nie. Gestrüpp kratzte ihr oft bis über die Knie. Tote Baumriesen hatten andere, jüngere, saftige, im Fallen mitgerissen und riegelten moosüberzogen die eingeschlagene Richtung ab. Flechten hingen dick wie Vorhänge herunter, und sie konnte meistens nicht unterscheiden, was zu dem einen und was zu einem anderen Baum gehörte. Dann gähnten plötzlich Sümpfe vor ihr, und Lichtungen schlossen abrupt mit einer Schlucht, in der zwei Bäche zusammenstürzten. Aus heiterem Himmel wallte Nebel ins mittlere Stockwerk der Baumriesen. Manchmal kam sie auch zu Stellen, wo nie Sonnenlicht hinfiel und der Boden immer morastig blieb und sie aus Angst, steckenzubleiben, umkehrte. Doch ein kleiner Radius genügte ihr, denn sie entdeckte überall noch neue Bäume.
Bei ihrer Ankunft am Maiden Creek hatte sie geglaubt, dass die vielen Eichen die gleichen waren wie die an den Hängen des Donnersbergs. Jetzt fand sie täglich andere. Solche, deren Blätter kaum geschlitzt waren und sich braun verfärbten, wuchsen in erster Linie an feuchten Stellen. Bald konnte sie sie von denen unterscheiden, die besonders hoch in den Himmel ragten. Die Enden ihrer Blätter waren merkwürdig abgerundet und die Kappen der Eicheln strohig behaart. Andere trugen Eicheln, die unter ihrer Kappe fast verschwanden, während die gezackten Blätter an allen Enden spitz zuliefen und mittlerweile feuerrot glänzten. Charlotte suchte die rötesten, die sie finden konnte, band sie mit einem Grashalm zusammen und zauberte daraus einen Haarschmuck für Jakob. Herausgeputzt wie er war, ließ sie den Kleinen in ihren Spiegel, den einzigen, den es im Haus gab, schauen und freute sich, weil Samuel sich über das glucksende Gelächter seines Sohnes freute. Missbilligend schaute die Witwe von ihrer Näharbeit auf und kniff die Lippen zusammen. Es waren trotz allem keine schlechten Tage.
Die Aufteilung des Hauses sah so aus, dass die Witwe ihre drei Söhne zu sich in das Zimmer neben der Küche und der Stube geholt hatte. Charlotte, Sarah und mit ihnen Jakob schliefen auf dem Dachboden nahe am Kamin. Weil der Dachboden ein einziger Raum war, hatte Samuel aus den rohen Brettern, die Aaron noch gesägt hatte, eine Zwischenwand und für sich ein Bett gezimmert.
Knapp zwei Wochen, nachdem sie eingezogen waren, drang ungewohnter Lärm ins Obergeschoss hinauf. Die kleinen Jungen hatten schon tagsüber über Bauchschmerzen gejammert, jetzt hörte es sich an, als ob sie sich übergaben. Sarah stopfte die Bettdecke fest um Jakob herum und flüsterte Charlotte zu, dass sie wohl besser Barbara helfe. Demonstrativ gähnte Charlotte und wuchtete sich auf die andere Seite. Dann lag sie hellwach und starrte auf die Schemen der runzeligen Apfelringe, die aufgefädelt unter dem Dach trockneten und von denen sie sich von Zeit zu Zeit verschlungene Geschichten erzählen ließ, die diesseits und jenseits des Atlantiks spielten.
Er sagte nichts, bis er vor ihrem Bett stand, aber natürlich hatte sie seine nackten Fußsohlen auf den Holzdielen gehört.
»Wir sind allein.«
»Ja.«
»Ich denke jede Nacht an dich, Charlotte.«
»Nicht an die Witwe eine Treppe unter dir?«
Als Antwort schob sich seine Hand unter ihr Nachthemd und blieb auf ihrer linken Brust liegen. Für eine Weile lauschten sie nur angespannt dem Atem des anderen.
»Du solltest sie heiraten und zwar schnell.«
Der Hohn in ihrer Stimme kam ihr selbst künstlich vor. Aber vorerst schützte er sie davor zu weinen. Die Wärme seiner Hand tat weh, weil sie den Moment fürchtete, in dem sie sich verflüchtigen würde.
»Seit wann sorgst du dich so um den heiligen Ehestand?«
»Ironie wird in deiner neuen Gemeinde bestimmt nicht geschätzt, also gewöhn
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