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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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verwandte und befreundete Baroninnen, Gräfinnen und Freifrauen mit ihrem Nachwuchs, den französischen Gouvernanten, Ammen, Hauslehrern und Zofen lärmend aus Kutschen und überschwemmten das Geispitzheimer Anwesen für einen langen Nachmittag mit eleganter Sorglosigkeit. Charlotte, die nicht an Kinder gewohnt war, spürte plötzlich viele kleine klebrige Hände, die sie in einen Kreis zogen. Andere strichen unverschämt zutraulich über ihre bloßen Arme, umfassten ihre Hüfte, tapsten ihr beim Blindekuhspielen auf den Kopf oder zogen an einem ihrer Ohren. Es gab kleine Kinder, die gerade erst laufen gelernt hatten und für Charlottes Geschmack angenehm dunkel und schwer nach Tabakrauch rochen, sodass sie sie heimlich an sich zog, um an ihnen wie ein Hund zu schnuppern. Andere Kinder, meistens Mädchen mit zehn, elf Jahren, deren Gesichter so rot und fleischig waren, wie es bald auch ihre Körper werden würden, verströmten etwas Vergorenes, das den penetranten Dünsten glich, die an manchen Tagen aus der Küche heraufzogen, wenn die Mägde Lunge kochten. Einigen wenigen haftete ein süßlicher, aber gleichzeitig scharfer Geruch an, aus dem sich eindeutig Karamell herausschmecken ließ. Charlotte fand erst nach mehreren Festnachmittagen heraus, dass es sich dabei überwiegend um Jungen mit dunklen Haaren handelte, hin und wieder auch um ein dünnes Mädchen. Aber ein Kind, das nach gar nichts roch, war nie dabei gewesen.
    Charlotte entschied sich dann doch für das silbergraue Kleid. Was sich als zweckmäßig erwies. Wie schon beim ersten Mal erledigte sich alles rasch. Schon nach wenigen Sekunden fiel Manteuffel röchelnd über ihr zusammen. Charlotte hatte nur etwas Mühe, unter ihm hervorzukriechen und gleichzeitig Achtzugeben, dass ihr Blick nicht aus Versehen auf seine Beine fiel. Dann roch es aber doch noch, sogar recht unangenehm.
    »Er ist noch nicht reif zum Ziehen«, sagte Manteuffel weinerlich, als Charlotte anstandshalber noch ein wenig neben ihm lag, und bestand darauf, ihr den Zahn zu zeigen, der ihn quälte, seit er aus Leipzig abgefahren war. Als sich Charlotte über seinen geöffneten Mund beugte, raubte ihr der faulige Gestank den Atem. Trotzdem tat sie ihm den Gefallen und schaute in das Dunkel seiner Mundhöhle, bis sie zwischen anderen krummen und gelben Zähnen den einen braunen großen entdeckte, der aus einem geschwollenen Eiterherd herausragte. Glücklicherweise drängte die Zeit. Charlotte schlüpfte ohne Probleme in ihr silbergraues Kleid und ließ es sich auf einem der langen Gänge rasch von einem Lakaien zuschnüren.
    Viele Gesichter glänzten schon speckig, und weil es so viele waren, hingen sie wie Froschlaiche zusammen. Die Herren von Sickingen mit ihren seit Generationen gleichermaßen hässlichen Frauen, die von Greifenclaus, von Lüzens, von Venningens, die reiche, verwitwete Gräfin Wartenberg und ihre drei pockennarbigen Töchter, der einflussreiche Clan der Haxthausens mit einem Duzend Vettern und Cousinen im Schlepptau und einem eben volljährig gewordenen Sohn, der vor einigen Tagen einen Herrn vom hessischen Hof im Duell erschossen hatte. Adrian von Lamezan, der Kabinettssekretär des pfälzischen Kurfürsten und eigens aus Mannheim angereist, beobachtete aus sicherem Abstand die junge Frau des badischen Gesandten, die ihren Liebhaber vor Weihnachten in die Wüste geschickt hatte. Niemand wusste bislang warum und durch wen sie ihn ersetzen würde. Die Lakaien, die Punsch servierten, waren schon wieder allesamt neu, dieses Mal rauchblau eingekleidet. War das eine der nervösen Launen ihrer Mutter? Charlotte erschrak, als sie sie schließlich aufgereiht auf einer der Froschlaichschnüre entdeckte. Kerzengerade, mit sprühenden Augen, die Mundwinkel straff hochgezogen, Manteuffel, den Ehrengast an ihrer Seite, den Fürsten nicht aus dem Blick lassend, die hübsche Enkelin des Grafen Bretzenheim mit gezielter Lässigkeit in ihre Schranken weisend. Charlotte litt mit ihr mit. Instinktiv vermied sie es, sich vom Strom der Gäste zu ihrer Mutter hintreiben zu lassen. Ihre Mutter würde merken, dass sie sie durchschaute, dass sie die Anstrengung, die Zuckungen an den Schläfen und die Schweißperlen unter der Brillanz sah.
    Die Rettung kam vom Orchester. Ein kleines hüpfendes Menuett wurde flott aufgespielt. Charlotte erwiderte knapp das spitzmündige Lächeln Manteuffels. Bildete er sich etwas ein? Die Rechnung war jetzt ja wohl beglichen. Sie wechselte abrupt die Richtung, und

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