Der elektrische Kuss - Roman
auch schwer beeindruckt. Diese Reibung, das konnte sie sich leicht ausmalen, musste enorm sein. Kein Mensch konnte sie mit bloßer Hand bewirken. Sie spürte förmlich den Wind in ihrem Gesicht, den prickelnden Fahrtwind des Fortschritts, der mit dieser Maschine bald auch durch ihr Leben gehen würde. Im Augenblick aber war sie eher betäubt und gebannt von den Ereignissen auf der Bühne.
Manteuffel winkte einen Pagen heran. Eine silberne Schale, eine braune, mit einem Korken verschlossene Flasche und ein Degen wurden auf einem Tablett gebracht, währenddessen er trat und trat. Alle Blicke im Saal hefteten sich an das gequetschte Profil des sächsischen Fortschrittspropheten. Sogar Waldkirch hielt jetzt seinen Mund und schnaufte nur noch asthmatisch. Ohne dass jemand ihnen ein Zeichen gegeben hatte, spitzten die Burschen auf dem Balkon wieder die Münder und bliesen kraftvoll in die Trompeten. Amalia von Geispitzheim zuckte als Einzige nicht zusammen. Was Charlotte zuversichtlich stimmte, dass ihre Mutter für den Rest des Abends gegen Irritationen durch unverschämt junge Gesichter mit Grübchen in den fleischigen Wangen gefeit sein würde.
»Jetzt elektrisiere ich den Degen.«
Manteuffels Stimme nahm die beseelte Sanftheit eines Dorfpfarrers an, der im Mittelteil seiner Predigt angekommen ist. Obwohl nichts zu sehen war, außer dass er einen zwar ganz normalen, allerdings lächerlich altmodischen Degen an das sich emsig drehende Bierglas hielt. Der Page stellte die Schale auf ein hüfthohes Marmortischchen und füllte sie mit farbloser Flüssigkeit aus der Flasche. Manteuffel hob und senkte den Degen. Die »Ohs« und »Achs«, gefolgt von einem breiten Raunen, wurden nach wenigen Sekunden von einem Poltern, Kleiderrascheln und eiligen Schritten hinter Charlotte geschluckt. Die kleine Dame mit dem üppigen Schmuck an Ohren und Brust war in Ohnmacht gefallen. Lakaien hievten sie hoch, in der Menge öffnete sich eine Gasse, die Dame wurde hinausgetragen, das Publikum floss wieder zusammen wie das Rote Meer und blickte nach vorne. Die großen blauen Flammen, die weit sichtbar aus der Schale schlugen, konnten endlich mit gebührender Aufmerksamkeit und geweiteten Augen bestaunt werden.
Charlottes Betäubung schwand. Ihr fiel urplötzlich ein, dass sie Felix den ganzen Abend nicht gesehen und ihn vielleicht viel zu lange vernachlässigt hatte. Erst dann kroch der Ärger in ihr hoch. Darüber, dass alle ihre Fragen und Zweifel der vergangenen Wochen, die vielen Grübeleien ihrer einsamen Ausritte gerade eben als längst überflüssig degradiert worden waren. Ihr blieb nichts mehr anderes übrig, als wie alle anderen zu glotzen. War das Manteuffels Rache dafür, dass sie ihn im Bett als Langweiler, der er ja nun mal war, behandelt hatte? Blitze und die erzeugte, abgezapfte und fortgepflanzte Elektrizität waren also tatsächlich dasselbe. Sie hatte es vermutet, sich theoretisch vorgetastet. Beides konnte Materie wie Holz, Stroh, Menschen oder auch Flüssigkeiten entzünden. Sie brauchte nicht mehr weiter zu spekulieren. Hier vor ihren Augen war es bewiesen worden. Ein Lakai bot Charlotte ein Weinglas an, aber sie schüttelte zornig den Kopf und gleichzeitig den alten Trottel von ihrem Arm ab. Sie fühlte sich gedemütigt und betrogen. Manteuffel hatte sie um das Vergnügen gebracht, die elektrische Welt und sich zu beschleunigen und zu erleuchten. Während sie umgekehrt brav wie eine Bürgersfrau ihre Raten abgestottert hatte. Um sie herum begannen die Leute zu schieben und zu drängen. Jemand trat ihr auf den Fuß, entschuldigte sich, ohne dass Charlotte ihn oder sie gesehen hatte.
»Dem Kurfürsten gefällt es nicht, dass es inzwischen so viele sind. Sie vermehren sich tatsächlich wie die Karnickel.«
»Andererseits mehren sie aber auch die Einkünfte ihrer Pachtherren.«
»Stimmt. So komisch und absonderlich sie in Erscheinung treten, so zukunftsweisend betätigen sie sich in der Landwirtschaft. Ich habe in der Kommission deshalb schon ein paar Mal vorgeschlagen, ihre Anbauweisen und Düngungsmethoden systematisch zu erfassen und den einheimischen Bauern zu empfehlen.«
»Fraglich, ob die das kapieren würden, dumm wie sie sind«, gab die andere Stimme zu bedenken und fuhr fort: »Es sind ja nicht nur die fortschrittlichen Ideen, die den Erfolg bringen. Täufer sollen ja auch noch außerordentlich fleißig, sauber und sparsam sein. Sie sind praktisch nie im Rückstand mit ihren Zahlungen und manche sollen
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