Der elektrische Kuss - Roman
er fürchtete, dass seine Tochter ihn riechen konnte.
Sein Sohn war in der einen Woche, in der er weg gewesen war, gewachsen und schäkerte aus seinem Weidenkorb heraus mit ihm. Samuel wagte sich kaum darüber zu freuen. Sogar um den Kleinen hochzunehmen, fehlte ihm im Moment die Zuversicht. So schaute er einfach eine Weile zu, wie die kleinen Arme in der Luft ruderten. Ihm entging nicht, dass ihn Sarah dabei von der Seite musterte.
In den folgenden Wochen schlief er schlecht. Und das nicht nur, weil die Eisenfessel Wunden in das Fleisch an seinem linken Knöchel gerieben hatte, die nicht heilen wollten und nachts manchmal mehr schmerzten als am Tag und die er regelmäßig mit Kamillensud auswusch und dann mit Wollfett einrieb. Es waren viele quälende Gedanken, die ihn wach hielten oder so früh weckten, dass die Schwärze noch alles um ihn herum abdichtete. In seinem Kopf drehte sich ein großer Mühlstein. Er konnte nicht mehr mit dem Grübeln aufhören. Seine Augen brannten, obwohl er sie geschlossen hielt. Hinter seinen Augäpfeln bewegten sich merkwürdige flackernde Figuren. Er, Samuel Hochstettler, war nicht in die Welt gegangen, aber die Welt war bei ihm eingedrungen. Sodass er letztlich doch die Schuld trug, denn er hatte sie eindringen lassen. Wenn er über das Wann und Wie sinnierte, dann lag es natürlich nahe, sofort an die Person mit den offenen langen Haaren zu denken. Andererseits wäre das fast zu offensichtlich, denn der Teufel ging bekanntermaßen äußerst raffiniert vor. Sollte die Rettung seines Sohnes nur eine Finte gewesen sein, um zuerst Wankelmut und danach gleich Sünde in den Hof und in die Gemeinde einzuschleusen? Während die Nacht um ihn herum flüssiger und grauer wurde und in den Morgen hinüberging, brütete Samuel immer noch. Nein, eigentlich glaubte er nach wie vor, dass das Fräulein ein Werkzeug Gottes war, wenn auch ein ungeschickt ausgewähltes. Denn der Umkehrschluss würde bedeuten, dass er das Verdursten und Verhungern seines Sohnes hätte akzeptieren, ja begrüßen sollen, um den Teufel zu bannen. Wäre der Tod Jakobs das feste Schloss an der Tür gewesen? Samuel stöhnte laut auf.
Neben allen miteinander im Widerspruch liegenden Gedanken bewegte sich unablässig noch einer in seinem Kopf. Eigentlich floss er wie ein zäher Lavastrom. Vielleicht hatte Gott an ihm die Probe Abrahams wiederholen wollen? Deshalb als Boten auch den scheuen Wachtelkönig geschickt, dessen Bedeutung er nur nicht erkannt hatte. Abraham allerdings, daran biss die Maus keinen Faden ab, hatte keinen Moment gezögert, seinen Sohn Isaak zu fesseln, ihn auf den Opferaltar zu legen und nach dem Messer zu greifen, um seine Gottesfurcht zu beweisen. Dass Jakobs Schwester, die Mutterstelle an ihm vertrat, Sarah hieß wie auf den Buchstaben genau Isaaks Mutter, verschlimmerte Samuels Qualen, weil die Sache dadurch wahrscheinlicher wurde. Tatsache war, dass er Jakobs Leben nicht hatte opfern wollen, sonst hätte er ja nicht diese Flasche und ihre Überbringerin geduldet. War er dadurch vom schmalen geraden Weg abgekommen?
In einer dieser langen, zehrenden Stunden, bevor das erste Licht für eine gewisse Erlösung sorgte, gab er der Versuchung nach, stand auf, huschte im Nachthemd über den von der Herbstnacht feuchten Hofplatz. Auch dafür fühlte er sich seltsamerweise sofort schuldig. Denn Gottesfürchtige sollten nachts schlafen, damit sie für ihre Arbeit Kraft sammelten, und nicht herumgeistern. Samuel holte das französische Buch aus seiner Versenkung unter dem alten Zaumzeug hervor. La girafe lächelte ihn unverändert an und er schaute seinerseits eine Weile zurück. Stirnrunzelnd allerdings und mit zusammengepressten Lippen. Der Zettel steckte noch gefaltet im Buch. Das war zu erwarten gewesen, trotzdem machte sein Herz einen kleinen Sprung und klopfte schneller. Samuel drehte einen Melkeimer um und setzte sich darauf. Zunächst las er Wort für Wort, dann den ganzen Text mehrmals auf einen Rutsch. Ihm fiel wieder ein, dass sein Vater vor vielen Jahren einmal von dem amerikanischen Herrn erzählte hatte. Bis auf einen halben Tagesmarsch vom Muckentalerhof entfernt nach Monsheim sei William Penn damals gekommen und habe den frommen Leuten vom neuen Jerusalem auf der anderen Seite des Ozeans berichtet.
Charlotte bemerkte bald, dass Sarah sich veränderte, seitdem ihr Vater aus dem Gefängnis zurückgekommen war. Ihr schönes helles Gesicht wirkte lebhafter und sie taute wieder mehr auf. Sie
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