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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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gegeben.«
    Der Beamte ging auf Samuels Erklärung nicht ein, sondern blätterte in seiner Kladde, kritzelte ein paar Zeilen, blätterte zurück, kratzte sich an der Nase, wich Samuels geradem Blick aus. Es war ihm augenscheinlich unwohl zumute. Die Soldaten warteten auf einen Befehl von ihm.
    Knapp über den Köpfen der kleinen Gruppe zog eine Schwalbe eine rasante Kurve. Mit einem Mal hörte Samuel wieder überdeutlich die vielen kleinen Geräusche, die aus seinem Hof kamen. Die Balken, Tiere und Türangeln atmeten und ächzten im selben Rhythmus. Es klang wunderbar.
    Er konnte ziemlich genau einschätzen, was auf dem Spiel stand. Die Prinzipien der Regierung und ihre Maßnahmen waren kein Geheimnis, auch dass sie sich verschärften, hatte sich herumgesprochen. Bislang hatte ihn das nicht tangiert, zudem ließ Herr von Geispitzheim ihn in Ruhe. Jetzt hatte sich der Wind gegen ihn gedreht. Und er riskierte so ziemlich alles, was er liebte: seinen Hof, die Sicherheit seiner Familie, seinen Wohlstand, und auch die Aufgabe, die ihm Gott gegeben hatte, nämlich die Erde, von der er genommen und aus der er geformt worden war, so zu bestellen, dass sie fruchtbar wurde. Erst gestern hatte er darüber im ersten Buch Moses gelesen. Vor Samuels Augen stapelten sich wieder einmal die kleinen prallen Säcke voller schwarzem Kleesamen. Er hatte noch so viel vor. Bald würde es bei ihm keine Brachen mehr geben, auf seinen Feldern sollte jedes Jahr eine Frucht gedeihen. Mit mehr Futterpflanzen würde mehr Vieh gehalten werden können und logischerweise auch mehr Mist produziert, mit dem er wiederum der Erde mehr Kraft zurückgeben konnte. Der große Kreislauf, als dessen Verwalter er im irdischen Jammertal fungierte, war etwas Gottgegebenes. Den konnte er nicht im Stich lassen, sodass er auf das schrumpfte, was die ungläubigen und faulen Bauern zuwege brachten. Also doch besser alles widerrufen, was er gerade dem Beamten gesagt hatte?
    Das Abwägen peinigte ihn. Samuel spürte, wie sein Mund austrocknete und sich Sand auf seine Zunge legte. In den Augen des kurfürstlichen Beamten bemerkte er viele aufgeplatzte Äderchen. Auch dieser Mensch brauchte seine Nächstenliebe. Samuel suchte Blickkontakt, fand ihn aber nicht. Sein Brustkorb wurde von allen Seiten zusammengedrückt. Er hätte gerne noch etwas gesagt, noch mehr über die Pflichten eines Christenmenschen, den geraden Weg zu gehen. Warum sollte er lügen? Er log nie. Doch in seinem Hals kratzte es, und er bekam kein Wort mehr heraus. Sie banden ihm die Hände zusammen, und einer der Soldaten ließ ihn an einem Strick hinter seinem Pferd herlaufen.
    Samuel Hochstettler verbrachte acht Tage und Nächte im Gefängnis. Die Brüder von den amischen, aber auch ein paar von den anderen mennonitischen Gemeinden schrieben Bittgesuche an den Kurfürsten und boten für seine Freilassung Geld. Doch schließlich waren es ein paar Zeilen auf rotweinverkleckertem Papier, die Georg von Geispitzheim nach Mannheim schickte und in denen er sich für seinen Pächter verbürgte, die Samuel retteten. Als er nach Hause kam, ging er als Allererstes in den Stall und umarmte sein Pferd Älbli.
    Während der Tage im Gefängnis war er die Gelassenheit selbst gewesen. Betend und Passagen aus dem Märtyrerspiegel rezitierend, hatte er auf seinem schmutzigen Strohlager gesessen, den Hut immer auf dem Kopf, freundlich und nachsichtig mit seinen Bewachern, die Prüfung erduldend, wie sie von den Brüdern und Schwestern im Züricher und Passauer Gefängnis und noch länger zurück von Jesus Christus selbst erduldet worden war. Im Erleiden kam man dem Herr am nächsten. Der mächtige Gottessohn, der am Schluss der ohnmächtigste aller Menschen geworden war, wies ihm den Weg zur wahren Seligkeit. Diese Überzeugung wurde im Gefängnis nur noch gestärkt. Jetzt aber, zu Hause in seinem warmen Stall, zwischen den Leibern seiner Pferde zitterten Samuel plötzlich die Beine. Er verlor die Kontrolle über seinen Körper, musste sich mit einer Hand gegen die Wand stützen und dann auch noch würgen. Er übergab sich. Demütigender war allerdings die Erkenntnis, dass es ihm anscheinend an Frömmigkeit und Stärke fehlte, dass das Leiden ihn doch schwach gemacht hatte. Ausgiebig spülte er sich den Mund mit Wasser und kaute auch noch ein paar unreife Haselnüsse. Als er schließlich hinüber ins Wohnhaus ging, schämte er sich. Der säuerliche Geruch des Halbverdauten steckte noch immer zwischen seinen Zähnen, und

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