Der elektrische Kuss - Roman
redete etwas mehr. Insgeheim dachte Charlotte, dass es wirklich schwer war, dieses auf den ersten Blick so sanfte Geschöpf zu durchschauen. Es war Mitte Oktober und tagsüber noch mild und sonnig, als Sarah sich darüber beschwerte, dass sie immer im Haus sitzen müsse. Man könne Jakob, der prächtig gedieh, doch mal für ein paar Stunden der Magd überlassen. Sie wollte raus, Spazierengehen, zum Versteck am Bach. Erstaunt nahm Charlotte wahr, dass in ihrem Blick etwas Spitzbübisches aufblitzte. Oder gar Rebellisches?
Ihr selbst passten diese Wünsche gar nicht. Wo sollte sie sich von ihren Vormittagen ausruhen, an denen sie Mäuseschenkel zucken ließ und Seidenschnüre vom Obergeschoss über diverse Treppen bis in den Weinkeller spannte und am Ende eine dicke Kröte festband? Bislang war es ihr zweimal gelungen, mit ihrer Maschine so viel Elektrizität zu erzeugen, dass das jeweilige Tier bereits tot war, wenn sie atemlos beim ihm angerannt kam. Viel öfters aber hüpfte es plump, aber munter umher und versuchte sich zu befreien. Charlotte gab sich Mühe, das Verhältnis zwischen Elektrizitätsmenge und Wirkung besser auszutarieren. Die Resultate hielt sie in Listen fest. Kamen genügend zusammen, dann ließ sich daraus vielleicht ein Zusammenhang ableiten. Sie hatte also genug zu tun.
An Gewittern, von denen es in diesem Sommer genug gegeben hatte, war Charlotte nicht mehr interessiert. Den unmittelbaren Kontakt des Fluidums mit dem Leben fand sie mittlerweile spannender. Sonntags traf sie sich regelmäßig nach dem Gottesdienst mit Felix und berichtete ihm von der Absonderlichkeit, dass Elektrizität töten, andererseits aber auch tote Glieder in Bewegung versetzen konnte, sodass man fast den Eindruck bekam, das Leben führe wieder in sie hinein. Manchmal, wenn er ihr geduldig zuhörte, hielt er ihre Hand. Ansonsten verharrte er in einer freundlichen Resignation. Charlotte war grausam genug, ihn nicht nach seinen eigenen Studien zu fragen. Mit der Zeit ging ihr aber auch seine Traurigkeit auf die Nerven. Sie kam zu dem Schluss, dass sie ihre Experimente am besten in der Stube des Muckentalerhofs überdenken und in dieser Ordnung vor allem auch ihre eigenen Gedanken sortieren konnte. Deshalb wurden ihre Treffen mit Felix seltener.
Sarahs Drängen, endlich wieder zum Bach zu gehen, gab sie schließlich nach.
»Was macht ihr denn am Sonntagnachmittag oder am Abend?«, wollte Sarah wissen, wenige Minuten nachdem sie das Haus verlassen hatten, aber so dringlich, als hätte ihr diese Frage schon lange auf der Seele gebrannt. Ihre Sommersprossen tauchten dabei in einer himbeerroten Flut, die bis zum Haaransatz ging, unter. Charlotte verstand zunächst nicht, was sie meinte.
»Machen?«
»Deine Mutter, dein Vater, deine Freunde? Esst ihr zusammen nach dem Gottesdienst oder geht ihr spazieren? Treffen sich die Frauen und Mädchen zum Spinnen? So was, meine ich. «
Die Frage kam so impulsiv, dass Charlotte sich auf die Lippen biss. Das Mädchen hatte also tatsächlich keine Ahnung, was um sie herum und in den Städten passierte. Wie ein Inselkind aus Defoes »Robinson Crusoe«, vielleicht Freitags kleine Schwester.
»Tanzen, wir tanzen«, rutschte es Charlotte heraus. Und sie fand, dass sei eine passable, weil harmlose Antwort. Sarah quittierte sie mit großen Augen.
»Tanzen. Das geschieht mit Musik, nicht wahr?«
Sarah flüsterte jetzt nur noch, weil sie sich offensichtlich schämte, so etwas überhaupt zu fragen. Charlotte bog rasch einen Haselnusszweig zurück, der ihrer Freundin sonst ins Gesicht geschlagen wäre.
»Ja klar, Musik, wir tanzen zu Musik. Zu Musik, die eigens für das Tanzen komponiert wurde und von Orchestern auf Instrumenten gespielt wird. Es gibt da Menuette, Gavotten, die Contredanse anglaise mit Gassenaufstellung und die Contredanse fran Ç aise im Quadrat …«
Eine Krähe schrie und flatterte hoch. Charlotte pausierte und holte Luft. Außerdem schien Sarah für den Moment genug gehört zu haben und brauchte Zeit, es zu verarbeiten. So gingen sie weiter den vertrauten Weg am Bach entlang, jede in ihre Gedanken vertieft. Die Pantoffeln befanden sich noch in ihrem Versteck. Etwas verquollen zwar von der Feuchtigkeit, aber noch genauso hübsch wie an dem Tag, an dem Sarah sie geschenkt bekommen hatte. Sofort zog sie sie an. Der Herbstwind frischte auf, rüttelte in den Bäumen und riss weitere Blätter zu Boden.
Zwei, drei Tage später rückte Sarah mit einem neuen Wunsch heraus.
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