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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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ihrem Rock hervorschauten.
    Am nächsten Tag hatte sie leichtes Fieber und konnte nicht leugnen, dass sie sich elend fühlte. Außerdem zog eine Regenwand die nächste hinter sich her. Charlotte blinzelte durch die Tropfen, die an der Fensterscheibe hingen, und bemühte sich, ihre Freude darüber, dass sie endlich wieder in der Küche sitzen konnte, nicht allzu deutlich zu zeigen. Gemüse gab es im Garten keines mehr zu ernten und deshalb auch nicht zu putzen, allenfalls eingelagerte Kartoffeln zu schälen oder Kohl zu hobeln, was nicht viel Zeit in Anspruch nahm. Deshalb lag eines Nachmittags, als Charlotte zur üblichen Zeit kam, die blassblaue Steppdecke wieder auf dem Tisch. An den zusammengepressten Lippen Sarahs sah sie, dass ihre Freundin anscheinend keine sonderliche Lust zum Nähen hatte. Überhaupt wirkte sie bedrückt. Hatte es Streit mit ihrem Vater gegeben? Charlotte fragte nicht weiter nach. Doch es war offensichtlich, dass Hochstettler seiner Tochter weitere Spaziergänge verboten hatte. Dass Sarah ihm vom Tanzunterricht am Bach erzählt hatte, war nicht anzunehmen. Aber auch wenn es so gewesen wäre, hätte sich Charlotte nichts dabei gedacht. Zu dem Zeitpunkt hatte sie allerdings auch noch nicht die geringste Ahnung, was passieren würde.
    Die wollige Einlage der Decke war inzwischen an den Rändern fest mit der unteren und oberen Lage vernäht. Charlotte ließ die Handflächen über den Stoff wandern, der sich körnig anfühlte, und das matte schlichte Blau tat ihren Augen gut. Mit immer noch schmalen Lippen kramte Sarah Fäden und Nadel zusammen. Die beiden sackten wieder in ihre einsilbigen Gespräche zurück. Während Sarah stichelte und dabei hin und wieder ein mattes Stöhnen von sich gab, das als Zeichen des Protestes, aber auch des lauteren Atmens gewertet werden konnte, schaute Charlotte auf die feinen Haare, die sich im gekrümmten Nacken des Mädchens aus der Haube befreit hatten und sich rot und eigenwillig kringelten.
    »Lässt du mich auch mal?«
    Das Glas mit Holundersaft war ausgetrunken, und es gab keine Tiegel, Kellen oder irdenen Töpfe, die Charlotte an diesem Nachmittag, es war ein Freitag, noch nicht gründlich betrachtet und sich über ihr geordnetes Vorhandensein gefreut hätte.
    »Du?«
    »Ja ich, warum denn nicht?«
    Charlotte hielt dem Mädchen zugute, dass der ironische Unterton, der in der Gegenfrage mitschwang, nicht böse gemeint war. Als sei es das Selbstverständlichste der Welt, fügte sie deshalb hinzu:
    »Vielleicht brauche ich ja auch einmal eine Brautdecke. Außerdem, ob ich nur dasitze oder dabei sticke, das macht doch keinen großen Unterschied. Du musst es mir nur zeigen.«
    Sarah zuckte mit den Achseln und stichelte eine Weile wortlos weiter. Dann stand sie auf, verschwand in einer Kammer und kehrte mit mehr Faden und einer zweiten Nadel zurück. Offensichtlich noch von Sarahs Mutter stammten die dünnen, zunehmend verblassenden Kreidelinien, die über die Deckseite liefen.
    »Ein Rautengitter«, erklärte Sarah lahm. Charlotte ignorierte ihre Unwilligkeit und beugte sich für die nächste halbe Stunde tief über die Schulter des Mädchens, um dessen Handbewegung genau beobachten zu können. Dann befeuchtete sie den Anfang eines Fadens mit Spucke und zog ihn andächtig durch das Nadelöhr.
    Charlotte hatte weit weniger Talent zum Sticken als Sarah zum Tanzen. Aber es machte ihr nichtsdestotrotz Freude. Nicht zuletzt weil sie auf die Nähe alles so deutlich sehen konnte, was in der Ferne zu einem Nebel verschwamm, außer sie kniff ihre Augen fest zusammen, was ihr früher regelmäßig Ohrfeigen von ihrer Mutter eingebracht hatte. Lieber man sah schlecht, als dass man sich den Teint verdarb und faltig wurde.
    »Warum um Himmels willen müssen die Stiche so winzig sein?«
    »Weil enge Stiche besser zusammenhalten und dann auch die Linie gerade wird.«
    »Muss sie das?«
    Die Kieselsteinaugen wurden hart. Charlotte lachte trotzdem und setzte noch eins drauf:
    »Hauptsache ist doch wohl, dass das Muster hübsch aussieht.«
    Sarah legte die Hände auf die Tischplatte. Sie vermied Charlottes Blick, sondern fixierte eine der gezeichneten Rauten. Schließlich fing sie an zu sprechen, und ihre Worte klangen in Charlottes Ohren so, als ob sie einen auswendig gelernten Vers aufsagte.
    »Nützlichkeit ist eine der Eigenschaften, die unseren Herrn am meisten erfreut. Jeder Gegenstand muss ihm dienen und soll nicht das Auge ablenken. Unsere Demut zeigen wir am besten in

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