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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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Tanzen! Tanzen? Sarah wollte tanzen lernen. Charlotte sollte es ihr beibringen. Wer sonst! Charlotte verzog den Mund. Amüsiert, unbeabsichtigt auch eine Spur zu ironisch. Sarahs Kieselsteinaugen füllten sich mit Tränen und wurden dick. Wieder gab Charlotte nach.
    Die Ausbuchtung unter dem Blätterdach genügte fürs Erste. Zumindest reichte der Platz, um die ersten Schritte einzuüben. Ohne groß zu überlegen, begann Charlotte mit einem Menuett.
    »Immer zwei Mouvements, meine Liebe«, säuselte sie in Erinnerung an ihren schwäbischen Tanzlehrer. Sarah sog jede Bewegung auf, ihre kleinen Füße in den japanischen Pantoffeln trippelten ungeduldig. Charlotte bog ihr die Taille zurecht, hob ihre Ellenbogen, schob das kleine Kinn eine Spur höher.
    »Haltung, Mademoiselle, Brust raus und doucement. Schau, jetzt beugst du die Beine und streckst sie anschließend auf der halben Spitze des Fußes. Eins, zwei, drei und dann bei vier, schau zu. Vor-rück-vor.«
    Sarahs Mund öffnete sich einen Spalt, und ihre Zunge schaute angestrengt heraus.
    »Bei sechs beugen wir schon wieder beide Beine.«
    Charlotte glitt in kleinen Schritten auf und ab über den lehmigen Boden. Ihre Arme hielt sie leicht nach oben angewinkelt, ihr Lächeln schaltete auf kühle Eleganz um. Nur denn, Takt zu halten, fiel ihr schwer, denn sie musste sich mit dem Rascheln der Blätter an ihrem Rocksaum und dem Wind in den Bäumen als einziger Begleitmusik zufriedengeben. Als nächstes exerzierte sie den Hofknicks.
    »Die Fußspitze beschreibt von vorn nach hinten einen Halbkreis. Der Oberkörper bleibt aufrecht. Hörst du, immer aufrecht. Nur der Oberschenkel hat zu tun. Das wirst du morgen ganz schön spüren.«
    Sie übten auch noch in der Dämmerung. Als sie schließlich aufbrachen, um zum Hof zurückzukehren, beherrschte Sarah schon alle Grundschritte. Auf dem Heimweg war sie völlig aus dem Häuschen, trällerte abwechselnd kleine Lieder und erzählte fast gleichzeitig von dem letzten dreifarbigen, deshalb glücksbringenden Wurf der Katze. Auch von Ruben erfuhr Charlotte wieder Neues. Er hatte Sarah wieder geküsst, sogar zweimal.
    Was für ein Gewinn, dachte Charlotte, während sie neben ihr den schmalen Trampelpfad entlanglief, wäre das Mädchen für den Kirchheimer Hof. Wahrscheinlich könnte man mit Sarah sogar die Bretzenheimsche Enkeltochter aus dem Rennen schlagen. Für einen Moment vertiefte sich Charlotte in den Gedanken, wie sich diese Idee realisieren ließ. Doch dann standen sie schon am Gartentor, und Hochstettlers tiefe Stimme drang aus dem Haus. Seine Silhouette tauchte in einem der erleuchteten Fenster auf, und die Ausbuchtung seines Bartes kam ihr wieder einmal sehr dumm und überflüssig vor. Sarah huschte hinein, und Charlotte schlich sich davon, hörte aber noch, wie Hochstettler seine Tochter schimpfte.
    Fast zwei Wochen übte Sarah das richtige Beugen, Fußabwinkeln, die eleganten Drehungen und das charmante Begrüßen des nicht vorhandenen männlichen Partners. Charlotte brachte ihr bei, wie man einer Figur kleine Verzierungen anfügte, mit denen man aber große Effekte erzielen konnte. Der Eifer und die Begeisterung waren ansteckend. Es hatte etwas ungemein Rührendes, wie das Mädchen in seinem trostlosen Sackgewand und der erdrückenden Haube auf dem Kopf leicht und graziös zwischen Bäumen und Büschen hin und her schwebte. Charlotte empfand bei diesem Anblick eine große Zärtlichkeit für Sarah. War es Robinson Crusoe so mit Freitag gegangen?
    Dann kamen die Nachmittage, an denen der Ostwind bissig wurde, und Zweige prasselten in den Bach. Das Wasser gurgelte fast schwarz an ihnen vorbei und gab zusätzliche Kälte ab. Fast alle Bäume waren schon kahl. Obwohl sich Charlotte schon in ihren Pelzmantel hüllte, war sie regelmäßig nach einer Stunde bis auf die Knochen durchgefroren. Wenn sie Sarah hin und wieder korrigierte, spürte sie, dass auch deren Fingerspitzen eiskalt waren, außerdem wurden ihre Lippen milchig blau. Trotzdem wollte das Mädchen nie aufhören. Sie bettelte mit einer Hartnäckigkeit, die Charlotte ihr ebenfalls nicht zugetraut hätte. Dass sie vieles nachholen wollte, was ihr bislang in ihrem Leben nicht vergönnt war, lag auf der Hand. Zum Glück erkältete sie sich. Einen Nachmittag hielt sie hustend und schniefend durch, drehte und beugte sich dabei sogar noch mit einer Spur mehr Verve. Sodass ihre zierlichen, schwarzbestrumpften Beine kokett, sogar übermütig, wie es Charlotte schien, unter

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