Der elektrische Kuss - Roman
kleinen, feinen Stichen, die nicht nach rechts oder links schauen, sondern immer den einen, geraden Weg gehen. Mutter hat immer gesagt, die Decken sind so, wie ein gottesfürchtiges Leben auch zu sein hat. Alles muss schlicht sein und der Ordnung folgen.«
Die Kieselsteinaugen schauten ausdruckslos, und Charlotte unterdrückte nur mit Mühe ein sarkastisches »Amen«. Sie hätte zu gern gewusst, ob Sarah das alles tatsächlich glaubte, was sie heruntergebetet hatte?
Sie nahmen wieder ihre Arbeit auf, und Charlotte bemühte sich, ab jetzt sorgfältiger zu sticken. Der Trick, so fand sie nach einer Weile heraus, bestand darin, den Faden, sobald die Nadel von unten wieder aus dem Stoff herauskam, nur ganz kurz hochzuziehen, die Nadel dann so schnell wie möglich zu drehen und sie an der Außenseite der Spitze des Zeigefingers entlang in das nächst mögliche Einstichloch zu drücken. Nach einer halben Stunde ging es ihr tatsächlich leichter von der Hand, auch weil sich an ihrem Finger schon eine Hornhaut zu bilden begann. Das Bellen Bärlis hallte über den Hof, wahrscheinlich war ihm eines der Hühner zu nahe gekommen. Charlotte hätte gerne nachgeschaut, blieb aber sitzen. Eine weitere halbe Stunde später strich sie den Stoff, der vor ihr lag, glatt. Die Stiche, die sie hinterlassen hatte, krümmten sich wie beschuppte Wirbel eines langen Reptilienschwanzes, der, hätte er gelebt, bestimmt zäh und wehrhaft gewesen wäre. Nützlich eben, wie Sarah gesagt hatte. Dass er trotzdem schön aussah, ergab für Charlotte keinen zwingenden Widerspruch. Als sie beim Hereinbrechen der Dämmerung zum Gehen aufstand, merkte sie erst, wie sehr ihre Schultern spannten, dafür herrschte in ihrem Kopf Ruhe und Klarheit. Nach Charlottes Geschmack hätte der Winter so weitergehen können. Als sie bis auf fünf alle Rauten geschafft hatten und bald anfangen konnten, sie mit ebenfalls geometrischen Mustern zu füllen, schlug das Wetter allerdings erneut um.
Die trockene Kälte, die ab der zweiten Dezemberhälfte in die Nasenlöcher stach, wenn man frühmorgens die Haustür öffnete und einatmete, vertrieb nicht nur endgültig den Schlaf, sie hinterließ für den Rest des Tages auch etwas Zupackendes und Entschlossenes. Sarah nutzte diese Luft. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, die blaue Decke auf den Tisch zu wuchten, sondern fing Charlotte an der Vordertür ab und zog sie gleich wieder durch die Gartentür hinaus.
»Eine Überraschung, komm gleich mit.«
Sarahs Augen funkelten verdächtig. Charlotte war nicht wohl dabei. Im Stechschritt und querfeldein wurde sie durch die Kälte dirigiert. Der Boden unter ihren Stiefeln war hart gefroren, und die Bäume standen starr in Raureif eingehüllt. Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, nach Jakob zu schauen.
»Was wird dein Vater dazu sagen, Sarah. Sarah, hörst du mich! Ich glaube, er wird das nicht mögen.«
Sarah blieb nicht einmal stehen, sondern fiel ihr im Laufen abrupt ins Wort: »… braucht es nicht zu wissen.«
Die Überraschung entpuppte sich als Scheune. Darum herum gruppierten sich die verfallenen Reste einer wohl schon vor langer Zeit aufgegebenen Mühle. Sarah schien sich auszukennen. Mit einer stolzen Handbewegung öffnete sie die lose in ihren Angeln hängende Tür. Der Gestank von Moder und Tierurin schlug ihnen entgegen. Das Dämmerlicht ließ Sarah kurz zögern. Das Dach hatte erstaunlicherweise standgehalten, und der Ostwind, nicht aber die Kälte blieb draußen. Im Gegensatz zu Charlotte blickte Sarah nicht nach oben ins morsche Gebälk, sondern nach unten in den Mäusedreck. Als ihr rechter Fuß anfing, auf dem gestampften Lehmboden zu trommeln, wusste Charlotte Bescheid.
»Das Z, das große Z, von dem du gesagt hast, dass es durch den ganzen Raum getanzt wird.«
Sarah stellte sich bereits in Position. Die Taille durch-, die Brust herausgestreckt und die Mundwinkel in die Höhe gezogen. Begrüßung, Beugen, Strecken, Beugen. Charlotte lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, um ihr zunächst nur zuzuschauen. Korrigieren brauchte sie nichts mehr. Die Bänder der schwarzen Haube flogen. Ohne zu zögern, hatte sich Sarah bereits von einer Ecke seitwärts bewegt und scherte nun auf die Diagonale ein, um in die Mitte des Raumes zu tanzen.
Wie von Geisterhand füllte sich die Scheune mit imaginären Tänzern, die Sarahs Hand nahmen, sie weiterreichten, und ihr stumme Zeichen für die nächste Figur gaben. Sanft erotisierend wechselten Nähe und Distanz zwischen
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