Der Elfenpakt
er nicht tatsächlich sehr viel Stress gehabt? Seine Mutter hatte ein Verhältnis. Sein Vater war vor die Tür gesetzt worden (und hatte, nicht zu vergessen, auch eine neue Freundin gefunden). Henrys Eltern würden sich zweifellos scheiden lassen, auch wenn keiner von beiden es zugeben wollte. Das bedeutete, dass Henry vielleicht in irgend so eine Axt Waisenhaus kam, bis er achtzehn war. Oder er würde mit seiner Mutter und seiner Schwester zusammenwohnen, was noch viel schlimmer war. Natürlich stand er unter Stress. Im Moment hatte er mehr Stress als je zuvor in seinem Leben, und alles, was er wollte, war abhauen: weg von seiner bescheuerten Mutter und seiner bescheuerten Schwester und seinem blöden Schlaffi-Vater und all diesem Mist, der zu Hause gerade ablief …
Und hatte er genau das denn nicht getan? War er vor all diesen Dingen nicht geflüchtet? Hatte er sich nicht eine Fantasiewelt zusammengebastelt und einfach …
Kein Elfenreich.
… angefangen, darin zu leben?
Je länger er darüber nachdachte, desto plausibler erschien ihm alles. Das Elfenreich in seiner Vorstellung hatte mit dem Elfenreich, das man aus Büchern kannte, nichts zu tun. In seinem gab es massenweise Helden – Leute, die so waren, wie Henry selbst gern gewesen wäre und niemals war. Und die Jugendlichen dort hatten was zu sagen. Pyrgus war ein Prinz und hätte Kaiser werden können, wenn er es gewollt hätte. Und Blue war inzwischen Kaiserin, die absolute Herrscherin über das Reich. Wenn man selbst ein Teenager war und sich eine Fantasiewelt zurechtträumen musste, würde man sich dann nicht eine ausdenken, in der Teenager das Sagen hatten?
Das Vibrieren unter seinen Füßen schien immer deutlicher zu werden. Wie viele Laster waren das denn?
Henry starrte auf den Fliederbusch, wo er Pyrgus zum ersten Mal begegnet war. Wo er meinte, Pyrgus zum ersten Mal begegnet zu sein. Das alles kam ihm so wirklich vor. Aber Träume hielt man schließlich auch für real, während man sie träumte, und für einen Verrückten waren Halluzinationen auch etwas Reales.
Blue wirkte so real. Henry erinnerte sich an das erste Mal, als er sie gesehen hatte. Damals hatte sie gerade ein Bad genommen.
Plötzlich wusste er, wie das alles gekommen war. Er hatte einfach keine Freundin. Das heißt, er hatte Charlie Severs, aber sie war bloß ein Freund, der zufälligerweise ein Mädchen war. Sie waren nicht zusammen oder so. Sie hatten keinen … na, eben das. Alle Jungen an Henrys Schule hatten Freundinnen. Oder zumindest zogen sie mit vielen Mädchen herum. Und die meisten erzählten, dass sie »es« taten. Henry hatte es manchmal auch schon behauptet, obwohl es nicht stimmte. Was solche Dinge anging, war er Mädchen gegenüber ein bisschen schüchtern. Er hätte sich nie vorstellen können, eine zu fragen, ob … Was nicht hieß, dass er nicht wollte. Klar wollte er! Jeder Junge in seinem Alter wollte.
Und dann gab es da noch etwas. Henry hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als es zuzugeben, aber er war ein wenig romantisch veranlagt. Er wollte nicht nur diese Bettgeschichten. Er wollte ein Mädchen, das er, na ja (selbst in Gedanken konnte er das Wort nur peinlich berührt vor sich hin murmeln), liebte. Eine Freundin, mit der er durch Kornfelder rennen und die er, falls nötig, retten würde, eine zum Händchenhalten und Blumenschenken und Gedichteschreiben und … und …
Und all das.
Nur dass die Mädchen sich für so was gar nicht mehr interessierten. Wenn man anfing Gedichte zu schreiben und Blumen zu schenken, hielten sie einen für einen Verrückten, der ihnen schnell lästig wurde.
Also hatte er sich ein schönes Mädchen zusammenphantasiert, in das er sich verlieben konnte. Ein Mädchen wie aus früheren Zeiten, ein Mädchen wie eine Elfenprinzessin. Und Blue war wirklich eine Elfenprinzessin gewesen. Zumindest bis zu ihrer Krönung. Und gemeinsam hatten sie Heldentaten vollbracht, zum Beispiel ihren Bruder gerettet. Und ihr Bruder war sein bester Freund. Und das alles war, verdammt noch mal, im Elfenland passiert, damit er, Henry, sich mit seiner bescheuerten Mutter und seiner bescheuerten Schwester oder mit seinen wirklichen Problemen nicht mehr abgeben musste.
Henry bewegte sich wie ein Zombie, als er das blaue Licht in Mr. Fogartys Garten verließ und die Straße hinauf zur Bushaltestelle lief. Inzwischen fuhren keine Laster mehr vorbei.
Zu Hause angekommen, stellte er fest, dass Anaïs – trotz Mamas vieler Versprechungen und
Weitere Kostenlose Bücher