Der Elfenpakt
Verzweiflung riskierte er es, die Sonnenbrille kurz abzunehmen – wie viele Passanten würden ihn genau genug beobachten, um zu merken, dass er keine Katzenaugen hatte? –, und da war sie! Zumindest glaubte er, sie gefunden zu haben: ein schwarzer Klecks mit einem wehenden Umhang. Ein Stück weiter südlich musste es eine Gasse geben …
Da! Jetzt hatte er es. Das war die Gasse, auf der einen Seite begrenzt durch die Grundstücksmauer.
Pyrgus setzte die Brille wieder auf und schlüpfte verstohlen in die Gasse. Zum Glück schien sie menschenleer zu sein. Aber wie sollte man mit dieser verdammten Brille sicher sein? Wieder nahm er sie ab und sah, dass tatsächlich niemand da war. Schnell, mit der einen Hand die Wand entlangtastend, lief er die Gasse hinunter und erreichte kurz darauf das Seitentor. Natürlich war es abgesperrt, und der braune Überzug des Schutzzaubers ließ darauf schließen, dass es vermutlich tödlich gewesen wäre hinüberzuklettern. Aber das Tor selbst interessierte Pyrgus auch gar nicht. Soweit er informiert war, musste es einen kleinen Durchgang für Fußgänger geben, kaum mehr als eine schmale Holzpforte, nur ein Stückchen weiter …
Ja, da war sie: eine Nische in der Mauer. Er glitt hinein, drückte die Klinke herunter, und – tatsächlich! – die Tür war offen, genau wie es ihm beschrieben worden war. Pyrgus schlüpfte hindurch, schloss sie hinter sich und stieß triumphierend ein Dankgebet aus. Er befand sich auf dem Ogyris-Anwesen!
Seltsamerweise konnte er hier besser sehen, zum einen, weil das Anwesen unter freiem Himmel lag, aber auch, weil er die verdammte Brille nun endlich absetzen konnte. Falls ihn hier jemand entdeckte, war er ohnehin tot, ob sie nun merkten, dass er ein Lichtelf war, oder nicht. Er lief auf einem schmalen Pfad, der sich durch eine Rasenfläche zu einem kleinen Wäldchen schlängelte. Am Ende des Weges würden Wachmänner auftauchen, so viel war klar. Die Ogyris-Familie war zwar nicht von edler Geburt, aber unfassbar reich – was sie für jeden Dieb im Elfenreich zum Magneten machte. Wachtposten zählten bestimmt nur zu den geringsten ihrer Sicherheitsmaßnahmen. Pyrgus erschauderte, als ihm die Minenfelder wieder einfielen, mit denen damals die alte Wunderleimfabrik von Chalkhill @ Brimstone gesichert gewesen war. Bei Nachtelfen musste man mit allem rechnen.
Pyrgus merkte, dass er in der Tür stehen geblieben war, und drückte den Rücken durch. Er musste sich zusammenreißen. Solange er den Anweisungen folgte, war er relativ sicher. Relativ. Nicht mehr.
Das Problem war, dass die Anweisungen kompliziert waren.
Er zog einen Zettel aus der Tasche in seinem Wams und stellte mit Entsetzen fest, dass er seine Notizen nicht einmal ohne Brille lesen konnte. Wo hatte er nur seinen Kopf gehabt? Es wäre doch ein Leichtes gewesen, eine tragbare Glühkugel oder ein Funkenlicht mitzunehmen. Aber nein … Vielleicht war er ein wenig zu … enthusiastisch gewesen?
Enthusiastisch hin oder her, seine Möglichkeiten waren nun begrenzt. Er konnte zur Straße zurückgehen und die Anweisungen unter einer Laterne lesen, für jedermann gut sichtbar. Oder aber er vertraute auf sein Gedächtnis. Das würde er nun wohl müssen: Das Risiko, entdeckt zu werden, war einfach zu groß.
Pyrgus verließ den Pfad und lief quer über den Rasen. Er betete inständig, dass er auf eine Rosenlaube treffen würde.
Das Anwesen war sehr viel größer, als er es sich vorgestellt hatte. Nach fünfzehn Minuten war das Haus noch immer nicht in Sichtweite, obwohl er den Obelisken entdeckt hatte. Das war immerhin beruhigend. Außerdem war es ihm gelungen, Wachtposten und Fallen aus dem Weg zu gehen. Auch das beruhigte ihn. Wenn er den See erst einmal gefunden hatte, konnte er am Ufer entlang bis zum Bootshaus laufen.
Auch der See war sehr viel größer als erwartet. Ein Privatgrundstück dieser Größe, das mitten in der Stadt lag, musste in etwa so viel gekostet haben wie das Lösegeld für einen Kaiser. Er lief am Ufer entlang, mit abgesetzter Brille, um nach den Umrissen des Bootshauses Ausschau zu halten, als zu seiner Linken plötzlich ein Lichtblitz explodierte.
Pyrgus warf sich zu Boden. Das Erste, was sein Instinkt ihm sagte, war, dass er in eine Falle getreten war, doch als er aus dem Unterholz hervorlugte, sah er ein großes Gewächshaus, in dem kurz zuvor die Lichter angegangen waren. Er blieb liegen und wartete. Wahrscheinlich hatte irgendjemand die Leuchtkugeln eingeschaltet.
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